Fabian Ritter: Wir Wale

Wenn wir Geschichten aus den Genres Fantasy und Science-Fiction lesen, baut die Unterhaltungsindustrie auf sympathische Helden, die gegen das gigantisch Böse kämpfen, beziehungsweise den drohenden Untergang bestimmter Menschengruppen verhindern. Die Geschichte David gegen Goliath findet viele Kleider. Niemand scheint müde zu werden, sie in all ihren Facetten zu lesen, weil das Gute eben siegen muss.

Eine nicht so gängige, utopische Geschichte könnte so gehen: Ein Volk lebt friedlich miteinander, weil es nur ein Wir gibt. Wer die Führung der Gruppe übernimmt, hat hierfür die beste Qualifikation und nutzt diese ausschließlich zum Allgemeinwohl. In der Regel werden diese Fähigkeiten über Jahrzehnte hinweg geschult. Uraltes Wissen geht von der Mutter auf die Tochter über und später auf deren Tochter. Es scheint, als gäbe es hier schon von Anfang an das Matriarchat. Man stelle sich ein harmonisches Miteinander vor, in dem jeder lernen darf, was er will und seinen Platz in der Gesellschaft hat. Die hochentwickelte Kultur ist genauso komplex und effizient wie die Kommunikation untereinander. Sie produziert keinen Müll und braucht kein Handy, um sich über weite Strecken miteinander auszutauschen.

In der Realität gab es dieses Leben seit tausenden von Jahren bei unseren Nachbarn, den Meeressäugern.

Der Autor, Walforscher und Meeresschützer Fabian Ritter stellt in seinem Buch verschiedene Walarten, Delphine und Tümmler vor. Er schreibt aus deren Perspektive über die Besonderheiten ihres Lebens in den Weiten der Ozeane, wie sie lernen, lieben, jagen … Ganz konkret zeigt er in einem zweiten Erzählstrang die Biografie eines Grönlandwales und wie sein zweihundertfünfundzwanzigjähriges Leben insbesondere durch Menschen in Gefahr gerät. Umso überraschender ist die stetige Neugier der Wale und Delphine auf Menschen. Es gab die Tradition der gemeinschaftlichen Jagd von Orcas und Menschen, um Buckelwale zu jagen. Der Autor beschreibt, wie Orcas Buckelwale in eine Bucht trieben, damit Aborigines in ihren Booten die gefährliche Jagd erfolgreich durchführen konnten. Zur Belohnung gaben sie den Orcas die Zungen der erlegten Wale, die als Delikatesse gelten. Auch Tümmler nahmen Kontakt zu Menschen auf, um beim Fischen zu helfen. Manche retten Menschen vor dem Ertrinken oder Haiangriffen. Heute gibt es Menschen, die gestrandeten Walen helfen oder verletzte Delphine und Wale von Angelschnüren, Netzen und Harpunen befreien. Weil eine Kommunikation zwischen Meeressäugern und Menschen möglich ist, wäre es ein Fortschritt, wenn Menschen auf dem Ozean Stationen anböten, um verletzten Walen und Delphinen zu helfen. Es wäre ein kleiner Akt der Wiedergutmachung.

Der Autor verwendet für sein aufklärerisches Buch die Erzählperspektive Wir. Denn diese entspricht der Lebensweise der verschiedenen „Erzähler“:

„Niemand steht über dem anderen, wenn es um das Wohl der Gemeinschaft geht. … Führung bedeutet Verantwortung, nicht Kontrolle oder Macht.“ (S. 222)

„Wir Wale haben während der Äonen unserer Existenz wieder und wieder große Veränderungen mitgemacht, manche davon umfassen unsere gesamte Welt. Wir reagierten flexibel und kreativ darauf. So haben wir uns mit Neuem immer anfreunden können und uns mit den Unwägbarkeiten arrangiert. (S, 291)

Die Erzählperspektive weckt bei der Lektüre unter anderem Empathie. Weil aber auch Raum für Identifikation gegeben wird, verstärkt sich das Maß an Betroffenheit und Erschütterung, wenn es um die systematische Vermarktung der Meeresbewohner und die Zerstörung ihres Umfeldes geht.

In den letzten Kapiteln verändert der Autor ganz bewusst seinen Ton, um an ein Umdenken und verändertes Verhalten zu appellieren.

Fabian Ritters Faszination für Wale weckt Neugier und kann ansteckend sein. Und wenn dies geschieht, rüttelt sein Buch auf. Der nächste Schritt wäre, bestimmte schädigende Handlungen nicht mehr zu unterstützen. Denn der schonende Umgang mit Ressourcen hilft bekanntlich allen Lebewesen.

Fabian Ritter: Wir Wale: Die Welt der Meeressäuger durch ihre Augen: Wie sie leben, lieben, lernen – Mit zahlreichen Abbildungen des Autors
Penguin, Mai 2025
400 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und zahlreichen farbigen Abbildungen, 29,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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