Dorothée Albers: Nachhall einer kurzen Geschichte

Als die Musikstudentin Jet Mitte der 1950er Jahre schwanger wird, bleibt für sie nichts mehr, wie es war. Ohne dass sie die Möglichkeit hat, dem Vater des Kindes, ihrem heimlichen Freund und Mitstudenten Zev, etwas davon zu sagen, verfrachten ihre strenggläubigen Eltern sie in ein Kloster. Sie unterbinden jeglichen Kontakt zu Zev, der wenig später von seinen Eltern in die USA geschickt wird. Ein paar Monate später bringt Jet einen Jungen zur Welt, der sofort in eine Pflegefamilie gegeben wird.

Sie versucht zu verdrängen, was passiert ist, beendet ihr Studium, macht Karriere als klassische Pianistin und heiratet. Die Arbeit ist ihr Leben, ihr Mann Bram der ruhende Pol. Bis ein unverhofftes Ereignis, alles wieder an die Oberfläche holt.

Jurre wächst auf einem Bauernhof auf, doch oft fühlt er sich dort nicht zugehörig. Sein Vater versteht nicht, dass er sich lieber mit seinem Saxofon als mit der Landwirtschaft beschäftigt. Als Jurre ihm sagt, dass er seine Zukunft nicht auf dem Hof sieht, schickt er ihn weg.

In der Stadt muss sich Jurre alleine durchschlagen. Mit verschiedenen Jobs hält er sich über Wasser, um sein Ziel zu verfolgen, ein professioneller Musiker zu werden.

Zur Mutter hält Jurre den Kontakt aufrecht. Bei einem Besuch entdeckt er zufällig Papiere, die darauf hinweisen, dass er nicht ihr leiblicher Sohn ist. Aber will er seine wahren Eltern überhaupt finden?

Jurres Tochter Fine hat schon früh ihre Liebe zum Cello entdeckt. Lange Zeit kommt für sie nichts anderes in Frage, als dieses Instrument zu studieren. Ein wichtiges Vorspiel steht an, die Nervosität wächst, sie beginnt zu zweifeln. Reichen ihr Talent und ihr Können aus? Ist es tatsächlich das, was sie will?

Jet, Jurre und Fine, die Protagonist*innen des Romans „Nachhall einer kurzen Geschichte“, verbindet neben ihrer Abstammung auch ihre Liebe zur Musik. Ausgangspunkt ist die kurze Liebesgeschichte zwischen Jet und Zev, die in den beiden selbst, aber auch über Generationen hinweg nachhallt. Die Niederländerin Dorothée Albers schafft es in ihrem wunderbaren Debüt-Roman, feine Fäden zu spinnen, die Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen, und Raum für das Ungesagte in der Familiengeschichte zu lassen. Nur die Leser*innen erfahren nach und nach die Zusammenhänge.

Die Autorin beschreibt nur selten den Alltag von Jet, Jurre und Fine sondern greift Szenen heraus, in denen sich deren Leben wendet, die sie prägen und die ihnen im Gedächtnis bleiben. Sie erzählt ihre Geschichten schnörkellos, aber mit großem Einfühlungsvermögen. Die Charaktere wirken echt und wahrhaftig, als seien sie aus dem Leben gegriffen. Wie vielen Menschen gelingt es auch Jet, Jurre und Fine nicht, in entscheidenden Situationen die richtigen Worte zu finden und auszusprechen. Selbst wenn sie ihr (Nicht-)Handeln hinterfragen, können sie nur selten aus ihrer Haut. Oft können sie sich nur über die Musik ausdrücken. Manchmal kann nur die Musik sie retten. Oder Menschen, die ihnen nachfühlen können und sie so nehmen, wie sie sind.

Dorothée Albers erzählt in „Nachhall einer kurzen Geschichte“, das auch als Ebook erhältlich ist, davon, dass wir die Melodie unseres Lebens nicht selbst komponieren. Aber wir können sie interpretieren, wir können improvisieren und Pausen setzen, wenn wir sie brauchen. Wir können unter Dissonanzen leiden, aber auch versuchen, sie aufzulösen oder gutzuheißen. Denn so angenehm sich Harmonie auch anfühlt, sie muss nicht immer das Ziel sein. Zu manchen Zeiten sind die „schrägen“ Töne die richtigen für uns. Nur sie bringen uns weiter.

Ich kann mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. Wem es genauso geht und wer eine berührende, spannend geschriebene und kluge Familiengeschichte lesen möchte, sollte „Nachhall einer kurzen Geschichte“ unbedingt zur Hand nehmen. Klare Leseempfehlung!

Dorothée Albers: Nachhall einer kurzen Geschichte.
Karl Rauch, Februar 2020.
224 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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