Im Sommer 1974 wird der geschundene Körper eines jungen Mannes neben den Gleisen in einem Bostoner Bahnhof gefunden. Inzwischen sind viele Stunden nach seinem Tod vergangen. Sergeant Bobby Coyne findet schnell heraus, wer für den Lynchmord verantwortlich sein könnte. Es sieht so aus, als wäre dies wieder ein ganz normaler Fall, in dem ein Mensch mit falscher Hautfarbe zur falschen Zeit am falschen Ort eine Autopanne hat und zur nächtlichen Stunde einen Parkour überleben muss, der ihn durch ein weißes Viertel führt.
In dem gleichen Viertel soll in wenigen Tagen die richterlich angeordnete Rassentrennung in den Schulen aufgehoben werden, bei der zwangsweise ein Schülertausch zwischen unterschiedlichen Stadtvierteln durchgeführt wird. Die Bewohner des scheinbar beschaulichen Vororts Southie organisieren aus diesem Grund eine emotional aufgeladene Protestbewegung.
Auch Mary Pat beteiligt sich. Schon seit Jahren engagiert sie sich in einem Frauengremium. Meistens hört sie den Gründungsmitgliedern zu und passt sich an. Schließlich lebt sie in einer eingeschworenen irischen Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, während im Hintergrund Martin Butler und seine Jungs bestimmen, wo es lang geht.
Wer in Southie geboren wird, hier zur Schule geht, heiratet, eine Familie gründet, führt die Tradition der Gemeinschaft fort. Das Gefüge der Sicherheit bricht für Mary Pat auseinander, als ihre Tochter abends mit Freunden ausgeht und nicht mehr zurückkommt. Sie beginnt Fragen zu stellen. Und je öfter sie an der Mauer des Schweigens abprallt, umso verzweifelter und wütender wird sie.
Zahlreiche Auszeichnungen
In der Welt der Spannungsliteratur ist der erfolgreiche Dennis Lehane seit über drei Dekaden kein Unbekannter. Der irischstämmige Autor aus Boston kam über Umwege zum Schreiben. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhielt er für seine Werke, die zum Teil verfilmt, sehr erfolgreich wurden. Seine Bücher, wie zum Beispiel Mystic River, thematisieren häufig die Schattenseite der amerikanischen Gesellschaft, in der die scheinbar heile Welt mit dem reichen Nährboden aus Fremdenfeindlichkeit, Verbrechen, Drogen, Kindesmissbrauch verbunden ist.
Im Zentrum seines aktuellen Romans steht die alleinerziehende Mary Pat, die bereits ihren drogensüchtigen Sohn verloren hat und mit dem drohenden Verlust ihrer Tochter nur schwer klar kommt. Falls sie alles verlieren wird, was in ihrem Leben wichtig ist, wofür lohnt sich dann ein Weiterleben? Mary Pats Verzweiflung kennt keine Grenzen.
Auf die harte Tour
Ihr Leben lang nahm sie alles hin: „… Mary Pat ist seit eh und je geschlagen worden, mal mehr, mal weniger. Sie ist getreten und zum Stolpern gebracht, mit Kleiderbügeln, Besenstielen, Wiffleballschlägern … traktiert worden.“ (S. 202) „Griff einer oder eine sie an, ist sie auf alle losgegangen, immer schon …“ (S. 203) Mary Pat hat auf die harte Tour gelernt, jeden Streit zu beenden.
Mit diesem starken Frauencharakter weckt Dennis Lehne viel Empathie und Verständnis. Seine Mary Pat wächst über sich hinaus, weil sie nicht aufgeben kann. Ihre hartnäckige Suche nach der Wahrheit bringt vor dem politischen Hintergrund der Unruhen vieles in Bewegung, auch bei dem unbestechlichen Detektive Bobby Coyne. Die daraus entstehende Spannung lässt einen kaum noch los.
Dennis Lehane: Sekunden der Gnade
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Malte Krutzsch
Diogenes, August 2023
400 Seiten, Hardcover, 26,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.