Ilva Fabiani: Meine langen Nächte

Roman einer erschütternden Selbstanklage

Die italienische Autorin, die in Deutschland studiert hat, erzählt in ihrem Debütroman eine erschütternde Geschichte. Eine erfundene Geschichte, die vermutlich aber so oder ähnlich vielfach stattgefunden hat in den Jahren der Nazidiktatur.

Beginnen tut diese Geschichte jedoch viel früher. Die junge Anna Alrutz lebt wohlbehütet in einer gutsituierten Familie zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern. Ihr Vater ist angesehener Arzt, ihre Mutter und ihre kleine Schwester leiden an einer schweren Erbkrankheit und ihr jüngerer Bruder Willi nervt sie stets aufgrund seiner ungezügelten Esslust und dem daraus resultierenden unförmigen Körper.

Anna ist lebhaft, intelligent und impulsiv. In ihrer Familie ist es normal, über jedes Thema offen zu diskutieren, auch in Anwesenheit oder unter Einbeziehung der weiblichen Mitglieder. Das ist für diese Zeit eher ungewöhnlich. Anna wurde 1907 geboren, einer Zeit, in der die Männer das Sagen haben.

Besonders liebt sie die Sommer, die die Familie in Salzgitter verbringt. Dort hat sie eine beste Freundin und dort erlebt sie ihre erste schmachtende Liebe. In Braunschweig, wo die Familie das Jahr über lebt, gerät sie durch den Bruder einer Freundin schon früh in erste Kontakte mit den Nationalsozialisten. Während ihr kleiner Bruder mit einem Jungen befreundet ist, der von Nazis verprügelt wird und ihr Vater deren Ideologie vehement ablehnt, wird Anna von dem Bazillus erfasst und entwickelt sich zu einer überzeugten Nationalsozialistin.

Sie beginnt ein Medizinstudium, unter erschwerten Bedingungen, denn Frauen sind an der Universität noch eine Seltenheit. Schließlich bricht sie das Studium ab, als ihre Schwester stirbt und wird Krankenschwester. Ein „braune“ Schwester, was nicht nur auf die braune Tracht bezogen ist.

In der Klinik, in der sie arbeitet, werden Frauen zwangssterilisiert. Wenn sie sogenanntes unwertes Leben sind, krank, behindert oder soziale Außenseiterinnen. Anna ist tief involviert in diese Sterilisationen, hält sie für absolut richtig und schreckt auch nicht davor zurück, die Frauen mit Gewalt zu den Operationen zu zwingen.

Erst nach und nach und vor allem durch die neue Liebe zu einem Franzosen ändert sich ihr Blick und ihre Einstellung. Was dann zu einer Katastrophe und zu ihrem eigenen Tod führt.

Die gesamte Geschichte erfahren wir aus der Sicht Annas, die nach ihrem Tod auf ihr Leben zurückblickt, vom Wind getragen die Menschen damals ebenso beobachtet wie sie auch die Gegenwart nach ihrem Tod und die Zukunft sehen kann und diese kommentiert. Dadurch liest sich der Roman nicht einfach, manches wird zäh und unnötig in die Länge gezogen erzählt, anderes wieder nur angedeutet.

Trotz der sehr langen Vorgeschichte – die eigentlich entscheidende Handlung um die Sterilisationen beginnt erst nach etwa 200 Seiten – ist dieser Roman vor allem die Geschichte einer Entwicklung. Von einer aufgeschlossenen Jugendlichen zu einer Täterin der Nazis und von dort zu einer, die ihre Schuld erkennt und bereut.

Dabei ist besonders beeindruckend, dass die Autorin nie wertet oder urteilt, weder im positiven noch im negativen. Ein wichtiger, wenn auch nicht leicht lesbarer Roman, den man empfehlen muss.

Ilva Fabiani – Meine langen Nächte
aus dem Italienischen von Birgit Ulmer
Steidl, Juli 2023
Gebundene Ausgabe, 272 Seiten,  24,00 €

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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