Dieses Buch ist eine Begegnung mit dem Bösen in einem Mensch.
Charles Lewinsky hat in „Andersen“ eine fantastische Idee verarbeitet: Das Gedächtnis seines Protagonisten existiert unabhänig vom Zustand seiner Zellen. Ein Mensch wird also wiedergeboren, seine Charaktereigenschaften, Lebenserfahrungen und Erinnerungen an sein vorangegangenes Leben sind ihm erhalten geblieben.
Das Buch beginnt damit, dass der Icherzähler Jonas völlig orientierungslos in einer ihn umgebenden Dunkelheit aufwacht. Lange weiß er nicht, wo er sich befindet, bis ihm irgendwann klar wird, dass sein Körper momentan im Mutterleib heranreift.
Geboren im neunzehnten Jahrhundert ist er nun ein Kind des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Jonas, beziehungsweise Andersen ist eine zutiefst böse Person, der man selbst niemals begegnen möchte. Seine Kaltblütigkeit basiert auf einem empfindungslosen Pragmatismus. Dabei fasziniert er dermaßen, dass man die Zeilen nur ungern loslässt.
Sein früheres Leben verbrachte er zur Zeit des zweiten Weltkriegs, wo er übelste Foltermethoden bei seinen Opfern angewandt hatte. Nachdem er untertauchen musste, ließ er sich die linke Hand amputieren, konstruierte sich eine neue, perfekt ausgeklügelte Lebensgeschichte, beschaffte sich einwandfrei gefälschte Papiere und wurde zu Damian Andersen.
Nach und nach wird Jonas sich seiner vorherigen Identität als Spion mit allen Erinnerungen, die er noch in sich trägt, bewusst. Sich selbst kann er das Wissen über sein vorangegangenes Leben nur in der Form erklären, dass die menschliche Seele von einer höheren, ökonomisch denkenden Macht immer wieder neu verwendet wird und so mehrere Leben bekommt.
Eigentlich – so Jonas‘ Theorie, hätten die Erinnerungen zwischen dem einen und dem darauffolgenden Leben gelöscht werden müssen, um zu verhindern, dass die Leben durcheinander geraten. Weil er aber Ende des Krieges eine neue Identität als Andersen angenommen hatte, blieb ihm dieses selbstbestimmt erschaffene Dasein erhalten.
Lewinsky arbeitet mit zwei Erzählsträngen. Zuerst macht er uns mit Jonas vertraut.
Bereits als Kleinkind weist Jonas ungemein niederträchtige Wesenszüge auf. Wir begleiten ihn bei seinem Heranwachsen und seinem Plan, seinen Eltern, sobald die Zeit herangereift ist, davonzulaufen. Dieses Ansinnen resultiert aus einer Erinnerungslücke. Jonas weiß zwar, wer er war bevor er zu Andersen wurde, aber ausgerechnet sein weiterführendes Leben als Andersen hat er nicht im Gedächtnis. So wird Jonas zu einem Getriebenen der eigenen Vergangenheit. Seine gesamte Kindheit hindurch wird seine Lebensweise von einem vorausschauenden, berechnenden Handeln und der daraus resultierenden Macht gelenkt, was er jedoch niemandem zu erkennen geben kann.
Der zweite Erzählstrang ist aus der Sicht Arnos, dem Vater von Jonas geschildert. Arno führt Tagebuch über das Heranwachsen von Jonas und verarbeitet darin die ihm unerklärlich bleibenden Charkakterzüge und die Entwicklung seines Sohnes samt seiner eigenen Verzweiflung.
Eine beunruhigende, fesselnde Persönlichkeitsstudie mit einem spannungsgeladenen Plot.
Charles Lewinsky: Andersen.
Nagel & Kimche, März 2016.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.