Der Plan klang einfach: Umzug von London nach Neuseeland, dort ein paar Jahre arbeiten, danach zurück für den nächsten Sprung auf der Karriereleiter. Aus diesem Grund saß die ganze Familie mit vier Kindern in einem Leihwagen. Es sollte ein kleiner Urlaub vor dem ersten Arbeitstag des Vaters werden.
Statt der Schönheit der Inseln sahen sie Regen. Sehr viel Regen. Noch mehr Regen. Und so entstand der Gedanke. Schnell weiterfahren. Das schnelle Weiterfahren fand nachts statt und endete so plötzlich, dass nur der Vater begriff, was gerade geschah. Seine Familie schlief, als der Wagen in einen Abgrund stürzte.
Im Morgengrauen hört Katherine ihren Bruder Maurice stöhnen und jammern. Allmählich begreifen sie, dass nur sie und der kleine Tommy überlebt haben. Der Regen hat über Nacht die Spuren des Absturzes weggespült. Theoretisch und praktisch hatten die drei Kinder keine Chance, in der Wildnis zu überleben, wäre nicht nach drei Tagen ein Mann mit Namen Peters vorbeigekommen.
Das Leben nach dem Absturz findet auf einer alten Farm ohne Strom und fließendem Wasser statt. Es gibt für alle viel Arbeit und für die Kinder ein Kerbholz, auf dem sie ablesen können, wie hoch die Schulden sind, die sie abarbeiten müssen.
Den abenteuerlichen Roman Kerbholz schrieb Carl Nixon in Frankreich, als er ein Katherine Mansfield Fellow war. Der räumliche Abstand zu seiner neuseeländischen Heimat hat bei der Perspektive sicherlich mitgeholfen, die Mentalität der unterschiedlichen Charaktere zweier Kontinente aufeinander loszulassen. Peters und seine Partnerin Martha haben ganz andere Vorstellungen darüber, was wichtig für das Überleben in der Wildnis ist. In ihrer Region ging wirtschaftlich ziemlich viel schief. Die meisten Bewohner zogen in die Städte, während die anderen in der sterbenden Region zurechtkommen mussten.
Im Gegensatz zu Peters und Martha erhielten die Kinder Katherine, Maurice und Tommy Bildung und Lebenskomfort auf dem Silbertablett. Wie hart das Leben tatsächlich sein kann, lernen sie auf die harte Tour. Besonders unter dem Aspekt, dass Regeln und Gesetze im Busch andere sind als die in London.
In verschiedenen Handlungssträngen und Zeitfenstern erfährt man viel über die Bemühungen der Tante Suzanne, dem Akzeptieren der Polizei über das Verschwinden einer englischen Familie, Peters und Marthas Sachzwängen und den vergeblichen Wünschen der drei überlebenden Kinder.
Der psychologisch wunderbare Aufbau ihrer Geschichte macht aus der Lektüre einen ergreifenden Abenteuerroman, bei dem es nur wenige „Gewinner“ geben kann. Manchmal hängt dieses Gewinnen nur von der Perspektive und ihrer Definition ab.
Carl Nixon: Kerbholz.
Aus dem Englischen übersetzt von Jan Karsten.
Unionsverlag, Juli 2024.
304 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.