Dörte Hansen: Zur See

Die deutsche Schriftstellerin Dörte Hansen (Jahrgang 1964) aus Husum hat es geschafft: drei Romane, drei Erfolge. Mit „Altes Land“ aus dem Jahr 2015 und „Mittagsstunde“ (2018) landete sie auf den Bestsellerlisten. Beide Romane wurden verfilmt. „Mittagsstunde“ mit Charly Hübner in der Hauptrolle als Ingwer Feddersen läuft aktuell in den Kinos. Nun also Hansens dritter Streich. „Zur See“ ist am 28. September 2022 im Penguin Verlag erschienen. Dörte Hansen ist 2022 Stadtschreiberin in Mainz.

Schauplatz ihrer neuesten Geschichte ist eine namenlose Insel in der Nordsee. Dort lebt seit 300 Jahren die Familie Sander. Hanne Sander ist Kaptänsfrau und Mutter von drei Kindern, Ryckmer, Eske und Henrik. Vater Jens Sander war Hochseekapitän und lebt seit zwanzig Jahren als Vogelwart auf Driftland.

Ryckmer, der Älteste, war auch Kapitän bis ihn ein Sturm aus der Bahn und von der Brücke warf. Jetzt ist er Deckmann auf der Fähre vom Festland zur Insel und Alkoholiker. Er wohnt bei Hanne, die ihn jeden Abend mit ihrem Auto vom Schiff abholt und ihm seine Bierflaschen einteilt. Ryckmer kennt die Sagen und Mythen der Insel, er registriert Wind, Stürme und Fluten. Er trinkt, damit er schlafen kann.

Eske, die Tochter, arbeitet als Altenpflegerin, hört Heavy Metal und ist tätowiert. Sie hasst die Inseltouristen, die erst ihr Bett im Haus der Familie Sander und jetzt die ganze Insel erobern. Mit ihrer Mutter Hanne liegt sie deswegen über Kreuz, doch hält sie Kontakt zu ihrem Vogelwart-Vater.

Henrik, der Jüngste, läuft barfuß und sammelt Treibgut am Strand. Jeden Tag schwimmt und tollt er mit seinem Hund im Meer, sommers wie winters. Er macht Kunst aus dem Gefundenem und verkauft sie gut an die Touristen.

Und dann ist da noch der Inselpastor Matthias Lehmann, der „Pyrotechniker des Herrn“, der fast nur noch für die Urlauber predigt, morgens gegen die Stimmen in seinem Kopf joggt und den bald seine Frau Katrin verlassen wird, um auf dem Festland zu leben.

Dörte Hansen erzählt vom Leben auf der Insel, von den Alltäglichkeiten und den Veränderungen. Und sie erzählt von den Menschen, den Traditionen, dem Klima und den Touristenströmen. Bis eines Tages auf der Insel ein Wal strandet und verendet. Tagelang verwest und stinkt der Kadaver auf dem Parkplatz der Inselstadt. Und das Leben der Familie Sander ändert sich mit Wucht.

In „Zur See“ findet Dörte Hansen einen ganz eigenen Ton. Als Lesende fremdele ich zunächst damit. Aber schon ein paar Sätze später bin ich überzeugt. Da ist sie: die Stimmigkeit der Sprache mit dem Inhalt. Einer Ballade gleich formt Dörte Hansen die Geschichte der Familie Sander:

„Er baute sich ein großes Haus, ließ seine Initialen in die Wand des Giebels schlagen und um sein Grundstück einen Zaun errichten, nicht aus Holz gezimmert, sondern aus den Kieferknochen eines Grönlandwals.

Von diesem Knochenzaun ist nicht mehr viel zu sehen, nur eine Reihe Stümpfe, schartig und verwittert, die von grünen Algen überwuchert sind. Ein schadhaftes Gebiss, kein schöner Anblick. Aber niemand denkt daran, den Zaun herauszureißen, und am wenigsten der Mann, der jeden Morgen über ihn hinwegsteigt und sich auf den Weg zum Hafen macht, in einer Jacke, die so aussieht, als hätte sie den Ahnen schon gehört.“ (S. 9/10)

Sie kommt beinahe ohne Dialoge aus, die Texte sonst so lebendig machen. Dafür sind ihre Figuren, wie auch schon in ihren letzten Romanen, ergreifend, eindringlich und intensiv gezeichnet. Jede einzelne bleibt in meinem Kopf hängen, nimmt dort Gestalt an, wirkt, wie diese versehrte und doch so kämpferische Familie Sander oder der von Frau, Gott und Glauben verlassene Pastor Lehmann mit der Gabe Menschen zu begeistern. Und dazu Hansens leise, stetig steigende Dramatik, die die Lesekonzentration auf Hochspannung hält bis zum Höhepunkt, den man nicht glauben noch verstehen mag und dann doch. Wie das Gedicht von Stevie Smith, das Dörte Hansen ihrem Buch vorangestellt hat „Not Waving but Drowning“ (1972). Bitte unbedingt lesen!

Dörte Hansen: Zur See.
Penguin, September 2022.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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