Ali Smith: Sommer

Der Sommer ist da und mit ihm Ali Smiths letzter Band ihres Jahreszeitenquartetts. Nach „Herbst“ (2019), „Winter“ (2020) und „Frühling“ (2021) ist „Sommer“ am 26. Juli 2021, wiederum übersetzt von Silvia Morawetz, im Luchterhand Literaturverlag erschienen.

Darin findet sich die Familie Greenlaw in Brighton 2020 am Anfang der Corona-Pandemie, die die Welt erschüttern wird. Die 16jährige Sacha hadert mit ihrer Mutter Grace, ihrem 13jährigen Bruder Robert und mit der

menschengemachten Apokalypse. Der Vater von Sacha und Robert, Jeff, hat sich von Grace getrennt und lebt nun nebenan mit seiner neuen Freundin Ashley. Die Greenlaws erhalten Besuch von Arthur („Art in Nature“) und Charlotte, die die Leserinnen und Leser des Zyklus aus „Winter“ kennen. Die beiden wollen zu dem inzwischen hundertvierjährigen Daniel Gluck (aus „Herbst“), der ein alter Freund von Arts Mutter Sophia gewesen sein soll. Daniel, der inzwischen im Haus von Elisabeths Mutter, seiner ehemaligen Nachbarin, lebt und gepflegt wird, schwebt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Er erinnert sich an seine Zeit im Internierungslager für Deutsche und Deutschstämmige, die in England lebten, auf der Isle of Man in Nordengland nach dem 2. Weltkrieg mit seinem Vater und an seine Schwester Hannah. Die Greenlaws entscheiden sich, mit Art und Charlotte an die Ostküste zu fahren. Während Sacha Briefe an einen Flüchtling („Hero“) schreibt, verhält sich der hochbegabte, in der Schule gemobbte Robert zunehmend dysfunktional, er guckt Pornos, spielt am Computer Folterspiele und ist fasziniert von Albert Einstein. Grace erlebt eine Reise in ihre Vergangenheit als Schauspielerin. Sie erinnert sich an eine Begegnung mit dem Schreiner John Mison in einer alten englischen Kirche, auf deren Gelände sich in der Gegenwart das Abschiebezentrum für Flüchtlinge aus dem Band „Frühling“ befindet. Am Ende quartiert Sophias Schwester Iris Flüchtlinge, die wegen Corona aus den Lagern entlassen werden, bei sich und Charlotte, die inzwischen dort wohnt, ein. Während Art sich in Elisabeth verliebt und Charlotte mit Sacha und Robert nach Roughton Heath fährt, wo Albert Einstein auf seiner Flucht vor den Nazis auf dem Weg nach Amerika eine Weile lebte, und sie dort in den Sternenhimmel schauen.

Ali Smith führt in „Sommer“ die Geschichten und Figuren aus den drei vorhergehenden Jahreszeitenbänden zusammen. Das ist an manchen Stellen ein wenig ruckelig, aber immer glaubhaft. Mit den beiden Greenlaw-Kindern hat Smith die nächste Generation in den Blick genommen. Sacha, die Klimaschützerin und Konsumkritikerin, und ihr immerzu provozierender, zuweilen boshafter kleiner Bruder Robert, der Boris Johnson gut findet und seiner Schwester eine Sanduhr mit Sekundenkleber in die Hand klebt. Die getrennt lebenden Eltern Grace und Jeff, die Ex-Partner Art und Charlotte, die Nachbarin, bei der der alte Herr Gluck lebt und Iris mit ihrem Engagement für Flüchtlinge sind Lebensgemeinschaften unserer Zeit. Familie bedeutet bei Smith nicht immer auch Blutsverwandtschaft.

Auch fehlen in „Sommer“ nicht die grandiosen Tiraden auf die Politik und Gesellschaft. So beginnt das Buch mit: Alle sagten: und? Wie bei und, weiter? Wie bei Achselzucken oder was soll ich da deiner Meinung nach tun? oder das ist mir so was von scheißegal oder find ich gut, mir soll’s recht sein.“ (S. 11)

Und auch Shakespeare, Dickens und Chaplin finden sich in diesem Buch wieder. Albert Einstein und seine Theorien durchziehen es bis hin zu der Ermordung von Familienmitgliedern Einsteins durch Nazis in Italien, die die Schriftstellerin, Filmemacherin und Malerin Lorenza Mazzetti miterlebt. Eine Tante von ihr war mit einem Cousin Einsteins verheiratet. Mazzettis Biografie und Ausschnitte aus ihren Filmen schiebt Smith in „Sommer“ ein. Dies ist ein Beispiel, wie auch die Themen Flucht, Brexit und Corona, für die fabelhafte Verknüpfung von Fiktion und Historie, die  Ali Smith zu einem packenden, durch und durch aktuellen Lesestoff macht.

So werden diese vier außergewöhnlichen Bücher des Jahreszeitenzyklus zu einem Kaleidoskop unserer Zeit in einem Vereinigten Königreich, das am Rande seiner Klippen balanciert. Bitte unbedingt lesen!

Ali Smith: Sommer.
Aus dem Englischen übersetzt von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, Juli 2021.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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Ein Kommentar zu “Ali Smith: Sommer

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