Beirut im Libanon, 1994: Amin ist ein gerade aus Deutschland zurückgekehrter Jugendlicher, der mit seiner Oma in der Stadt lebt. Der Vollwaise hat seine Eltern durch einen Unfall verloren und streift nun durch die Trümmer der Stadt. Bei dem gleichaltrigen Jafar findet der Junge Anschluss. Seine eigene Oma gibt ihm immer wieder Rätsel auf. Sie spricht nicht über die Vergangenheit und so bleibt Amin mit vielen Fragen allein zurück. Jafar hilft seinem besten Freund dabei, einige der Rätsel zu lösen.
Pierre Jarawan (Jahrgang 1985) ist Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter. Durch seinen Roman „Am Ende bleiben die Zedern“ aus dem Jahr 2016 wurde der vorher als Bühnenpoet tätige junge Mann auch als Schriftsteller bekannt. In seinem neusten Roman stellt er wieder eine libanesische Familie vor, die durch die politischen Verhältnisse im Land bestimmt wird. „Schon ein Sandkorn genügt, um eine große Geschichte daraus zu machen“ (Zitat Kapitel „Yeki Bud. Yeki Nabud“) heißt es gleich zu Beginn der Geschichte. Erzählt wird sie aus Sicht des erwachsenen Amins, der hört, dass seine Großmutter verstorben ist. Seit über einem Jahr hat er allerdings nicht mehr mit der Oma gesprochen und es wird eine Kluft zwischen den beiden deutlich. Im Angesicht ihres Todes erinnert er sich an seine Jugend im Jahr 1994 und eine besondere Beziehung zu der Großmutter wird schnell deutlich.
Sie erklärte Amin in 1994: „‚Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern, Amin […] In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.‘“ (Zitat Kapitel „Ein Haus mit vielen Zimmern“) Das trifft ein Kernthema des Romans schon sehr deutlich: Es geht ums Erinnern, Vergessen und um diejenigen, die in dem Land, das von Kriegen gebeutelt ist, verloren gegangen sind. Amin begibt sich auf die Spuren ebenjener Vermissten und entdeckt – auch in der Vergangenheit der eigenen Familie – nicht nur Schönes. Was diese Jugend mit ihm gemacht hat, kann man in den immer wieder vorkommenden Blicken in die Gegenwart des Jahres 2005 erkennen.
Pierre Jarawan ist ein besonderer Roman gelungen, der unheimlich in die Tiefe geht, je weiter man ihn liest. „Ein Lied für die Vermissten“ wird mir noch lange in Erinnerung bleiben und kennzeichnet eine ganz besondere Geschichte, die Raum gibt für leise Zwischentöne, allerhand Ungesagtes und viele verschleierte Geheimnisse. Die Stimmung in der libanesischen Stadt fängt der Autor dabei geschickt ein, so dass der Text auch viele atmosphärisch dichte Stellen hat.
Eine ganz besondere, sehr empfehlenswerte Lektüre von einem überaus talentierten Autor!
Pierre Jarawan: Ein Lied für die Vermissten.
Berlin Verlag, März 2020.
464 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.