Gabriele Kögl: Gipskind

„Die Kleine“ wird in den 1960-er Jahren geboren und wächst auf einem Bauernhof in Österreich auf. Die Verhältnisse in ihrem Elternhaus sind eher mittelalterlich als neuzeitlich und die Ansichten sind es dem entsprechend auch.

Es gibt keine Zentralheizung und keine Toilette im Haus. Der ältere Bruder nächtigt auf einem Sofa in der Stube, das tagsüber hochgeklappt wird. Es ist kein eigenes Zimmer für ihn vorhanden. Als die Kleine im Gitterbett absolut nicht mehr Platz hat, weil die Beine durch die Stäbe schauen, stirbt glücklicherweise der Großvater. Sie darf zur Oma ins Doppelbett ziehen und schläft fortan bei ihr.

Die Großmutter realisiert auch, dass die Kleine nicht laufen kann, weil eine Fehlstellung der Hüfte nicht erkannt- auf alle Fälle aber nicht korrigiert wurde. Man muss etwas unternehmen, sonst wird sie ihr Leben lang nicht gehen können. Es folgen für das Kind unzählige Krankenhausaufenthalte und ein Martyrium im Gipskorsett. Nur die Großmutter nimmt sich seiner liebevoll an und transportiert das „Gipskind“ im Leiterwägelchen an die frische Luft, damit es nicht wochenlang in seinem Bettchen liegen muss.

Das Leben der Eltern ist von harter Arbeit geprägt. Für Hätscheleien und zärtliche Worte gibt es keine Zeit. Die Kleine ist nur Ballast.

[…] und die Mutter zeterte herum, […] der kleine Nichtsnutz macht ihr nichts als Arbeit, und seit er auf der Welt ist, hat er nichts als Arbeit gemacht mit seinen verkrüppelten Beinen und seinem verkrüppelten Kopf, in dem nur dumme Gedanken drinnen sind, und nicht einmal zur Arbeit taugt das Gfrast, weil es so ungeschickt ist. Wer nicht rechtzeitig gehen lernt, bleibt ein Hinderling, der kann nie mehr richtig zupacken im Leben.“

Unerschrocken, nicht einzuschüchtern und mit einem ungeheuren Lebenswillen gesegnet, kämpft sich die Kleine durch die Kindheit und durch die Pubertät. Sie geht unbeirrt ihren Weg.  Unterstützt wird sie einzig und allein von der Großmutter, der sie bei nächtlichen Krampfanfällen mehrere Male das Leben rettet, indem sie ihr rechtzeitig ihre Herztropfen verabreicht.

Schon bald steht fest, die Burschen aus dem Dorf interessieren sie nicht. Sie ist klug und wissbegierig. Da ist im Dorf keiner für sie dabei. Ihre Eltern sähen sie gerne mit einem vermögenden Bauern aus der Gegend liiert oder mit dem „Herrn Hubert“, der ihnen Kredite für den Hausbau besorgt. Einer Vergewaltigung durch besagten Herrn Hubert entgeht die Kleine nur knapp. Zuhause verschweigt sie den Vorfall. Die Eltern würden ihr ohnehin nicht glauben und erst recht nichts gegen den Mann unternehmen.

Auch die Erlaubnis der Eltern, weiter zur Schule gehen zu dürfen und nicht Geld verdienen zu müssen, erkämpft sie sich. Gäbe es nicht die Schülerfreifahrt, gratis Schulbücher und den kostenlosen Schulbesuch, müsste sie einen Lehrberuf ergreifen.

Bei der täglichen Fahrt zur Schule nach Graz lernt sie Arthur kennen. Er ist der Sohn eines Richters und besucht ebenfalls eine höhere Schule. Hier fällt das erste Mal ihr Name. Andrea. Ab sofort ist sie nicht mehr „die Kleine“.

Mit Arthur geht Andrea eine Liebesbeziehung ein. Er versteht sie. In seinem Elternhaus begegnet sie einer anderen Welt, erlebt Kunst, Musik, Literatur. Sie ist überzeugt davon, das ist ihr Weg. Interessiert hat sie sich für derlei Dinge schon immer. Zielgerichtet strebt sie die Matura (das Abitur) an und schafft die Prüfungen mit gutem Erfolg.

Noch einmal „enttäuscht“ sie die Eltern als sie verkündet, nach Wien gehen und studieren zu wollen. Noch dazu „etwas Künstlerisches“, Schauspiel oder Bildende Kunst! Aber niemand kann es ihr mehr verwehren. Sie finanziert ihr Leben durch die Studienbeihilfe und arbeitet in den Ferien.

Arthur soll auf Wunsch der Eltern in Graz studieren und zuhause wohnen bleiben. Ihre glückliche Beziehung wird dadurch auf die Probe gestellt.

Als Andrea aber endgültig aus ihrem Heimatdorf wegfährt, erwartet sie im Zug eine Überraschung…

Es ist herzerwärmend zu lesen, wie sich die Protagonistin Andrea trotz Beleidigungen, trotz körperlicher Züchtigung, Demütigungen und Einschüchterungsversuchen den Weg in eine selbstbestimmte, positive Zukunft bahnt. Die Autorin verurteilt niemand. Es wird kein Bauern-Bashing betrieben und nicht die Enge eines Dorfes besungen, das in sich ganz verkommen ist und sich nach Außen abschottet. Gabriele Kögl schildert die Dinge wie sie sind. Drastisch, sprachlich markant, immer wieder mit ganz feiner Klinge pointiert. Hier wird soziale Realität der 1960- er und 1970-er Jahre in einen ganz feinen Roman gegossen.

Ein gutes, ein sehr empfehlenswertes Buch.

Gabriele Kögl: Gipskind.
Picus Verlag, August 2020.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.

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