„Ich bin mir bewusst, dass ich als Erzählungsträger eines Unglücks fungiere, dessen Ausmaß beschreiben zu wollen, immer vergeblich bleiben muss.“ (S. 25)
„Der 23. Oktober 1980 war ein Donnerstag. Fünfzig Schüler im Alter von fünf und sechs Jahren, plus drei Erwachsene, verloren ihr Leben infolge einer Propangasexplosion in einer Schule von Ortuella.“ (S. 26, 27)
Für die Eltern und den Großvater des verunglückten Nucos geht das Leben weiter. Die Trauer verändert alle Betroffenen. Auch das Verhalten der Nachbarn, aller Bekannten und Freunde verändert sich. Wie soll man mit so viel Anteilnahme umgehen, der ständigen Erinnerung an den Unfall und die damit verbundene Leerstelle in der Familie?
Der mit vielen Preisen ausgezeichnete Fernando Aramburu aus dem Baskenland schreibt einfühlsam und mit der nötigen Distanz über eine baskische Arbeiterfamilie. Im Zentrum steht unter anderem der Großvater Nicasio, der aufgrund seines Alters dem Tod auf seine ganz eigene Weise begegnet. Seine Gedanken drehen sich nicht mehr um die laufenden Rechnungen. Denn er lebt in seiner Eigentumswohnung und hat sein Auskommen. Der Vater José Miguel dagegen trägt noch für seine Familie die Verantwortung, die durch den drohenden Verlust seiner Arbeit um einiges schwerer wiegt.
Die Mutter Mariaje erlaubt dem Autor Einblicke in ihr Leben. Anfangs stellt sie in einem Interview fest, sie könne über José Miguel nur Vorteilhaftes berichten, auch wenn manche diese Beschreibung als weniger interessant empfänden. „Mit den Jahren stelle ich fest, dass ich weniger unglücklich war, als ich einmal geglaubt habe“. (S. 14)
Vordergründig könnte man bei diesem Familienroman vermuten, es gehe um das Unglück und die damit verbundene Trauer. Verstärkt wird diese Vermutung durch die gedankliche Konzentration des Großvaters auf seinen Enkel. Er hält seine Erinnerungen mit ganzer Kraft fest. Doch im Laufe verschiedener Ereignisse wird deutlich, dass Mariaje nicht nur als Überlebende wichtig ist. Sie zeigt, wie sie einen Schritt vor den Nächsten setzt. Jeden Tag. Ihr Mut und ihre Kraft beschreiben, wie stark Frauen sein können.
Mit einem Kunstgriff integriert der Autor eine wichtige Erzählstimme. Es ist der Textträger, das Buch wird damit ein eigenständiges Wesen. „Es“ hat seine eigene Meinung und seine differenzierte Kommentierung zu den Schicksalsschlägen. Ihm reicht es, „als Plattform für eine Geschichte zu dienen, die im hohen Maße das Ergebnis …“ (S. 245) vertraulicher Mitteilungen widerspiegelt. Aus vielen Facetten entstand ein dichtes literarisches Kunstwerk, das die Quintessenz des Lebens begreifbar macht.
Fernando Aramburu: Der Junge
Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zerbrüggen
Rowohlt Buchverlag, Februar 2025
256 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.