Sue Monk Kidd: Das Buch Ana

Was für ein faszinierendes Buch! Und was für ein wichtiges Buch. Ich habe schon mehrere Romane dieser Autorin gelesen und war jedesmal begeistert, besonders von „Die Erfindung der Flügel“. Und auch „Das Buch Ana“ ist hervorragend. Wieder geht es um die Stimme der Frau, darum, wie Frauen zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte unterdrückt wurden und wie es ihnen dennoch gelang, sich zu befreien, zu sprechen und gehört zu werden. Dazu kommen bei dieser Autorin jedes Mal wieder die genauen Recherchen, die präzise Beschreibung von Ort und Leben, die gelungene Schaffung des entsprechenden Zeitkolorits, seien es das Jahrhundert der Sklavenhaltung in Amerika in „Die Erfindung der Flügel“ oder wie im vorliegenden Roman die ersten Jahrzehnte nach Christi Geburt.

Sue Monk Kidd erzählt in ihrem neuen Roman, der von Judith Schwaab ins Deutsche übersetzt wurde, die Geschichte von Ana, der fiktiven Ehefrau Jesus‘. Ana ist von Kindesbeinen an eine Rebellin, sie weigert sich, die klassische weibliche Rolle der Schweigenden und Dienenden einzunehmen. Schon als Kind ringt sie ihrem Vater die Erlaubnis ab, Lesen und Schreiben zu lernen, etwas für Frauen normalerweise undenkbares. Doch Ana schreibt und schreibt, sie notiert alle Geschichten, die sie hört über Frauen, die unterdrückt, versklavt, misshandelt wurden und sie gibt diesen Frauen ihre Stimmen zurück. Der Roman setzt ein, als Ana 15 Jahre alt ist. Ihr Vater hat für sie einen Ehemann ausgesucht und vollzieht gegen den heftigen Widerstand seiner Tochter die Verlobung mit dem sehr viel älteren Mann. Anas Vater ist Schriftgelehrter und arbeitet für Herodes Antipas, den römischen Statthalter. Damit macht er sich um Unterstützer der Römer und zum Gegner der Juden, die sich der römischen Besatzung erwehren wollen. Heftiger Kämpfer gegen die Römer ist Anas Adoptivbruder Judas, der vom Vater wegen seiner Rebellion aus der Familie verstoßen wird.

Durch den Tod ihres Verlobten bleibt Ana die Ehe mit ihm erspart, doch sie gilt nun als Witwe. Als sie eines Tages vom Pöbel fast gesteinigt wird, weil sie sich gegen Herodes Antipas gewehrt hat, setzt sich Jesus für ihren Schutz ein. Die beiden lieben sich und heiraten. Ana wird nun in Nazareth in seiner einfachen Bauernfamilie leben und nicht mehr wie bisher als Tochter eines reichen Stadtbürgers.

Nach und nach entwickelt Jesus seine Hingabe an Gott und beginnt mit seinen Predigten. Anders als seine Familie unterstützt er Ana bei ihrem Herzenswunsch, zu schreiben. Trotz der Armut verschafft er ihr die nötigen Utensilien und so kann sie weiter die Geschichten von Frauen aufschreiben. Auch die ihrer Freundin Tabitha oder die ihrer Tanta Yaltha, die stets zu ihr hält und auch mit ihr in Jesus‘ Haushalt einzieht.

Immer wieder geht es um die Ungerechtigkeit Frauen gegenüber, um die „Unsichtbarkeit“ von Frauen, über die die Männer in allen Lebensbereichen bestimmen. Anas Drang nach Unabhängigkeit, ihr Aufbegehren gegen die Verstummung der Frauen stoßen immer wieder gegen die Härte der Männer, so zum Beispiel Jakobus, der Bruder von Jesus oder später, als sie in das Haus ihres Onkels Haran in Alexandria fliehen muss, dessen Unerbittlichkeit und Grausamkeit.  Aber auch andere Frauen haben oft kein Verständnis für Anas Freiheitsdrang, für ihre Widersetzlichkeit. Ihre Schwägerin Judith, die Frau von Jakobus, ist eine ihrer heftigen Gegnerinnen.

Doch Ana gibt nicht auf, sie schreibt, wann immer es ihr gelingt, sie lernt, wann immer sie kann, sie begehrt auf, sie widerspricht. Und findet in Jesus den Mann, der ihr all das zugesteht, der ihr ihre Freiheit, ihr Recht, ihren Verstand zu gebrauchen, zubilligt. So wie auch sie seine Überzeugung, seinen Glauben toleriert und unterstützt, sie leidet unter seinen ständigen Abwesenheit, sie vermisst ihn schmerzlich, doch sie hält ihn niemals zurück. Obwohl ihr die Gefahr, in der er ständig schwebt, bewusst ist. Dabei bleibt Ana stets die Protagonistin des Romans, Leben und Wirken von Jesus werden nur gestreift oder angedeutet, alles wird aus Anas Perspektive geschildert.

Der Roman von Sue Monk Kidd ist ein Plädoyer für die Rechte der Frauen, nicht mehr und nicht weniger. Dabei ist er auch noch spannend geschrieben, die fiktive Handlung perfekt in die historischen Ereignisse eingebettet. Die Beschreibung des harten Lebens besonders der Frauen, die, wenn sie vergewaltigt werden, als die Schuldigen bestraft werden und nicht etwa der Vergewaltiger, die die Tempel nicht betreten dürfen, die nicht selbst über ihre Ehe entscheiden dürfen, die nicht lernen dürfen, diese Beschreibung ist so lebensecht, so drastisch und farbig, dass man sie alle förmlich dabei beobachtet, was sie leisten und wie sie leiden. Dabei verlieren die Frauen, wie auch besonders Maria, Jesus‘ Mutter oder Yaltha, Anas Tante, der ihre kleine Tochter genommen wurde,  nie den Mut, sie sind stark, stärker als die meisten Männer.

Die Autorin sagt in ihrem Nachwort über ihre Protagonistin: „Wenn Jesus wirklich eine Frau hatte, dann wäre sie die Frau in der Historie, die am deutlichsten zum Schweigen gebracht wurde, und die am dringendsten eine Stimme braucht, um sich Gehör zu verschaffen.“

Dieser Frau verschafft Sue Monk Kidd nun Gehör. Ich bin von diesem Roman, den ich nicht aus der Hand legen konnte, bevor ich die letzte Seite erreicht hatte, absolut begeistert. Eine klare Leseempfehlung für alle Frauen – und Männer!

Sue Monk Kidd: Das Buch Ana.
btb, August 2020.
576 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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Ein Kommentar zu “Sue Monk Kidd: Das Buch Ana

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