Scott Alexander Howard: Das andere Tal

Der kanadische Autor und promovierte Philosoph Scott Alexander Howard erklärt in seinem Interview, sein Debütroman sei in erster Linie eine Meditation über die Vergangenheit und ihre Präsenz in unserem Leben. Es geht ihm dabei um kausale Zusammenhänge: Weil früher etwas Bestimmtes geschah, entwickeln sich durch eine Kettenreaktion folgenreiche Veränderungen, die den Lebenslauf eines Menschen festlegen.

In seinem Roman erfährt die kluge Schülerin Odile Ozanne, dass sie durch das strikte Befolgen von Regeln nicht nur in Gewissenskonflikte gerät, sondern auch rückblickend durch ihren Gehorsam einen gravierenden Fehler gemacht hat. Ihre Verzweiflung ist so groß, dass sie tiefgreifende Entscheidungen trifft, die ihre Biografie in eine Abwärtsspirale katapultiert.

Scott Alexander Howard baut bei Odiles Heilungsprozess auf die Metaphysik, die Zeitreisen und Parallelwelten beschreibt, in denen die gleichen Personen jeweils in einem anderen Alter agieren.

Die sechzehnjährige Odile geht in ihrem Tal zur Schule und wird von den Mitschülern gemobbt, weil sie klug und eine Halbwaise ist. Ihr Tal wird als ein in sich geschlossenes System beschrieben, das eingezäunt ist und von Grenzsoldaten bewacht wird. Im Osten und Westen befinden sich ähnliche Täler, die ebenfalls eingezäunt sind und bewacht werden. Hier lebt Odile quasi zur gleichen Zeit als Sechsunddreißigjährige oder Sechsundfünfzigjährige in einem geschlossenen System, das die Freiheit der Bürger einschränkt und sogar ihre Gedanken vorschreibt. Nichts soll dem Zufall überlassen werden. Niemand darf sein Schicksal korrigieren und durch eine Reise in ein anderes Tal sein jüngeres Ich in eine andere Richtung lenken.

Odile lernt bei ihrer Ausbildung, bei solch eigenmächtigen Eingriffen können Menschen rückwirkend aus den Geschichtsbüchern ausgelöscht werden und damit den Lebenslauf aller mit neuen Erinnerungen verändern. Um mehr hierüber zu erfahren, liest sie aufmerksam die Märchen- und Sagenbücher, in denen sie ein kollektives Gedächtnis vermutet. „… Viele dieser Geschichten sollten offensichtlich die Botschaft vermitteln … Verlass nie das Tal, misch dich nirgendwo ein.“ (S. 100)

Der Autor lässt die Ich-Erzählerin Odile in zwei Teilen von ihren Erlebnissen berichten: Im ersten Abschnitt lernt die sechzehnjährige Schülerin die Grausamkeit des Systems von innen kennen. Im zweiten Teil leidet die Sechsunddreißigjährige noch immer unter ihrer Einsamkeit. Als Grenzsoldatin soll sie das System der Unterdrückung von außen schützen und ist dabei selbst schutzlos rücksichtslosen Männern ausgeliefert. Flüchtlinge, die diesen Soldaten in die Hände fallen, werden ausnahmslos erschossen.

Der Autor hat sich zu einem langsamen Erzählstil entschlossen, um das gefängnisähnliche Leben in den Tälern unter die Lupe zu nehmen. Viele Bürger sind arm und unglücklich. Sie werden in Handwerkerberufe gezwungen, obwohl sie über andere Talente verfügen. Die wenigen Reichen bleiben unter sich und bestimmen im Hintergrund die Lebensbedingungen. Wer bei den Grenzsoldaten, also im Bodensatz der sozialen Hierarchie, landet, erhält den geringsten Sold und kaum Nahrung. Unterernährung und Mobbing lehren nicht nur Odile das Fürchten. Die totale Hoffnungslosigkeit und Unfreiheit sind letztendlich der Preis für das stabile System in den Tälern.

Während die amerikanische Filmindustrie die Zeitreisen in eine actiongeladene Unterhaltung kleidet, bringt Scott Alexander Howard mit seiner philosophischen Betrachtung die Zeitreise auf den Punkt. Bei der packenden Lektüre gewinnt man nicht nur Erkenntnisse, sondern beginnt auch das kollektive Gedächtnis zu hinterfragen.

Scott Alexander Howard: Das andere Tal
Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Anke Caroline Burger
Diogenes Verlag, März 2024
464 Seiten, Hardcover Leinen, 25,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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