Brigid Kemmerer: Hüte den Morgen

Alle Bücher, die ich bislang von der amerikanischen Autorin Brigid Kemmerer gelesen habe, haben mich überzeugt, ob Fantasy oder nicht. Manche davon habe ich auch im Original gelesen, weil sie in der Übersetzung nicht erhältlich sind oder die Übersetzung ewig lange dauert. Da ich beruflich viel mit der englischen Sprache und ihren Tücken zu tun habe und alles andere als sprachbegabt bin, heißt das schon was.

„Hüte den Morgen“ ist der zweite Band ihrer „Mondflor“-Trilogie. Mondflor ist eine Blume, die eine Seuche heilen kann und deswegen begehrt und umkämpft in Kandala. Um die Zeit herum, als die Seuche begann, gab es eine Revolution in Kandala, König und Königin wurden ermordet und die Brüder Harristan und Corrick kamen jung und unerfahren an die Macht. Trotzdem versank das Land nicht im Chaos, denn die beiden gaben ihr Bestes, um zu regieren. Harristan als sorgender und umsorgter König und Corrick als sein Vollstrecker. Im ersten Band haben wir erfahren, wie sehr Corrick unter seiner Rolle als verhasster Richter und Henker leidet und warum er es trotzdem für nötig hält, sie um jeden Preis aufrechtzuerhalten, damit sein Bruder als sorgender König auftreten kann.

Jetzt kommt noch Außenpolitik hinzu. Ein Schiff aus Ostria legt an – einem Land, mit dem Kandala seit Jahrzehnten keine Politik mehr unterhält. Anbei der Sohn eines vor vielen Jahren ausgesandten Spions mit einem Angebot. Stahl gegen Mondflor. Das Angebot ist verlockend und die Brüder fragen sich, ob es nicht zu verlockend ist. Corrick geht gemeinsam mit Tessa, dem Mädchen aus dem Volk, dem es gelang sein Herz zu berühren, und Lochlan, dem unbeugsamen Rebellen an Bord, um sich vor Ort in Ostria ein Bild zu machen und Verhandlungen aufzunehmen. Während er weg ist, muss Harristan erfahren, dass Rebellion ein Marathon und kein Kurzstreckenlauf sein kann.

Was hebt die Geschichte aus den vielen anderen hervor? Zunächst einmal gibt sich Brigid Kemmerer nicht damit zufrieden, einfach Gut und Böse aufeinanderprallen zu lassen. Ganz am Anfang von Band 1 galt noch Volk gegen Herrscher, aber inzwischen haben sich die Herrscher als sehr menschlich erwiesen und schon ist es nicht mehr so einfach. Speziell die Mondflor-Saga hat aber noch ein Element, das ich so noch nie gelesen habe. Harristan und Corrick wurden sehr jung und sehr unerfahren in die Herrscherrolle gezwungen. Sie tun mitten in einer chaotischen Situation das, was sie für das Beste halten, und zwar nicht nur für sich, sondern für Land und Volk. Brigid Kemmerer zeigt und hier, dass das trotzdem ganz gehörig schiefgehen kann. Zuweilen hat man den Eindruck, die beiden hätten zwar ein ziemlich gutes Buch über Staatskunde gelesen und auch verinnerlicht, hätten aber nicht richtig verstanden, dass die Realität trotzdem anders sein kann. Harristan war klar, dass er auf Gegenwind von seinen Konsulen stoßen wird, was Verrat jedoch in der Praxis bedeutet, lernt er auf die harte Tour erst in diesem zweiten Band. Es ist ein Unterschied, ob jemand in einer Debatte widerspricht, ob man vielleicht oder nur sehr teuer bekommt, was man will, oder ob man sich plötzlich im Pfeilhagel wiederfindet, weil dieser jemand außerdem noch die eigenen Leute gegen einen aufgehetzt hat. Eben dieser jemand, den man bislang nur für einen gepflegten Diskussionsgegner mit guten Manieren hielt.

Corrick hadert inzwischen mehr und mehr mit seiner Rolle als königlicher Vollstrecker. Bislang hatte er es für unumgänglich gehalten, brutal gegen Gesetzesbrecher zu sein, um die Ordnung in einem chaotischen Land wenigstens einigermaßen aufrechtzuerhalten. Jetzt bekommt er Impulse und Sichtweisen von außerhalb seiner Blase und er ist noch jung genug, dass ihn das zum Nachdenken bringt. Ob zum Umdenken, wird sich dann hoffentlich in Band 3 erweisen.

Fazit: Wer Fantasy inzwischen für zu eindimensional hält und wem die ausschweifenden Sexszenen in anderen Büchern zunehmend auf den Nerv gehen, sollte unbedingt diese Trilogie ausprobieren.

Brigid Kemmerer: Hüte den Morgen
Aus dem englischen übersetzt von Vanessa Lamatsch
Heyne, Dezember 2023
497 Seiten, Taschenbuch, 17,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.

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