Für Fans von „Der Pate“: Hier ist die weibliche Perspektive dazu! Während sich die Männer der „Familie“ draußen die Finger schmutzig machen – sprich: Erpressungsgelder einkassieren, Leute einschüchtern, Nasen brechen, Leichen versenken – sind ihre Frauen zu Hause zum stillen Warten verdammt. Sie pflegen Haushalt und Kinder, nie wissend, ob ihre Männer lebend nach Hause kommen. Das passive Ausgeliefertsein kann manchmal noch zermürbender sein, als die aktive Gewalt.
In diese mafiösen Familienstrukturen werden die Freundinnen Sofia und Antonia im New York der 20er Jahre hineingeboren. Schnell erkennen sie, dass sie anders sind. Kinder in der Schule wollen nicht mit ihnen spielen, ihre Väter sind oft nächtelang unterwegs, ständig bekommen sie Besuch von merkwürdigen „Onkeln“. Als Antonia acht Jahre alt ist, verschwindet ihr Vater Carlo spurlos. Ihre Mutter wird depressiv und zieht sich von allen anderen italienischen Familien zurück. Erst als sie zu Erwachsenen heranreifen, wird den beiden Freundinnen klar: Carlo wurde umgebracht, weil er aus der Mafia aussteigen wollte. Beide jungen Frauen wählen nun ihrerseits Wege, um gegen das System der Familie aufzubegehren.
Frauen rebellieren gegen Familienstrukturen
So grundverschieden im Charakter, so unterschiedlich sind ihre Revolten. Die intelligente Antonia will der Familie den Rücken kehren und sieht in schulischer Bildung den Ausweg. Sie möchte studieren, einen eigenen Beruf ausüben, irgendwo ganz neu anfangen. Die aufbrausende Sofia hingegen fühlt sich immer mehr zur Macht hingezogen. Da ihr Vater zwei Töchter, aber keinen Stammhalter hat, träumt sie davon, sein Erbe anzutreten und in die Familie einzusteigen.
Über diese unterschiedlichen Einstellungen in puncto beruflicher Emanzipation zerbricht beinahe die Freundschaft. Zudem lässt die Familie kaum Veränderung zu. Liebschaften, Wochenbettdepressionen und Gewissensbisse legen den Frauen weitere Steine in den Weg. Eine sich zuspitzende Situation verlangt von Sofia und Antonia, endgültig Stellung zu beziehen.
Subtile Gewalt ohne Blutvergießen
Naomi Krupitsky schafft es, eine Atmosphäre der Gewalt zu erzielen, ohne Blut, Folter oder explizite Szenen. Ihre Art der Angst ist subtil. Gewalt macht sich durch eisiges Schweigen breit, durch die Art der Informationsverweigerung. Sie zeigt sich durch die kleinen Repressionen des Alltags, durch Doppeldeutigkeiten, durch Abhängigkeitsspiralen. Auch wenn sie sich körperlich von der Familie zurückzieht, schafft es Antonias Mutter nie, sich ganz von ihr loszusagen.
Die für den Mord an ihrem Mann mitverantwortlichen Familienmitglieder zahlen ihre Miete, verschaffen ihr einen Job in einer Wäscherei, begleichen Rechnungen. Ihre Frauen stellen Essen vor die Tür, nehmen die Tochter in Obhut. Diese paradoxen Beziehungsgeflechte zwischen Loyalität und Verrat, Liebe und Gewalt, machen das System nur umso brutaler.
Elegant, nahbar und schonungslos zugleich
Auf faszinierende Weise, wie auf leisen Katzensohlen, baut Krupitsky einen Spannungsbogen auf. Dabei schaut sie tief in die Seelen ihrer beiden Protagonistinnen, zeigt ihre innerliche Zerrissenheit. So ist der Roman auf mehreren Ebenen Mafia-, Emanzipations- und Zeitgeschichte. Denn in den 40er Jahren stellt sich die Familie gern als „Die Guten“ dar, welche verfolgte Europäer und Juden auf Schiffen nach Amerika schmuggelt. Zu beachtlichen Preisen versteht sich. Aber das fällt, wie so vieles, unter den Mantel des Schweigens. Letztendlich handelt der Roman auch von Personen, die entwurzelt sind. Vom jüdischen Flüchtling über die depressive Witwe bis hin zur unruhigen Tochter, die nach einer Lebensaufgabe sucht.
Fazit: Spannend, vielschichtig, elegant und sehr nahbar. Diese Mafia-Familiengeschichte im Brooklyn der 20er bis 40er Jahre ist nicht umsonst ein New York Times Bestseller.
Naomi Krupitsky: Die Familie.
Aus dem Amerikanischen von Ursula Wulfecamp.
dtv, Februar 2024.
400 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.