Er war ein Lebemann und Schöngeist, erfolgreich, charismatisch, den angenehmen Dingen des Lebens zugetan. Aus einem konservativen jüdischen Dorf im Hinterland Galiziens hat sich Isidor Geller als Kommerzialrat an die Spitze der Wiener Gesellschaft hochgearbeitet. Seinen wirklichen Vornamen Israel hat er abgelegt. Vermeintlich geschützt durch Renommee und Reichtum, glaubt er, dass diese aufkommenden Nationalsozialisten ihm nichts anhaben können. Eine fatale Fehleinschätzung. Die in Berlin lebende Journalistin und Moderation Shelly Kupferberg zeichnet anhand von Briefen, Archivrecherchen und Besuchen in Wien den Werdegang ihres Urgroßonkels nach. Herausgekommen ist eine ergreifende Familiengeschichte. Sie stellt Schritt für Schritt die Ausgrenzung, den Abstieg und die Entrechtung der Juden dar bis hin zu Deportation und Tod.
Wien als Hochburg der jüdischen Kulturelite
Isidor Geller Lebensweg ist geprägt von Metamorphosen. Zunächst weg vom orthodoxen Judentum, hinaus aus einer Stadt, in der die Schwester schon in jungen Jahren verheiratet wird, weltliche Literatur verhasst und der Vater als Talmudgelehrter zwar angesehen ist, aber keinerlei Lohn erhält. Als Student und während seiner Anfänge in Wien repräsentiert Isidor die Schicht der assimilierten, modernen Juden, die in Wien glänzen können. Nicht nur Größen wie Gustav Mahler, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Sigmund Freud leiten hier eine neue Zeit ein. Mehr noch:
„Isidor merkte bald, wie viel die Stadt den jüdischen Künstlern verdankte: Durch den Hof und die Aristokratie allein, durch die christlichen Millionäre der Stadt, die sich meistens mehr für die Jagd und Rennställe interessierten, hätte Wien niemals die Stellung einer internationalen Kulturmetropole erlangt. Auch das Publikum bestand zu einem wichtigen Teil aus einer jüdischen Bourgeoisie, die ins Theater und ins Konzert ging, neue Bücher und Bilder kaufte, Ausstellungen besuchte und so Neues ermöglichte“. (S.66)
Roman über den Verlust von Identität und Zugehörigkeit
Durch seine leitende Tätigkeit sowie clevere Aktiengeschäfte schafft es Isidor bald zu Wohlstand und bis zum Kommerzialrat. Die Synagoge besucht er nur noch an den höchsten Feiertagen. Auch seine übrigen Geschwister fassen in Wien erfolgreich Fuß. Sein Neffe Walter – Shelly Kupferbergs Großvater – besucht den Onkel regelmäßig, nimmt die kulturelle Welt des Onkels auf und möchte statt Jurist oder Bankier lieber Schriftsteller werden. Er ist der auch, der als erster die Gefahr des NS-Regimes erkennt und mit 19 Jahren nach Palästina flieht. Nicht jedes Familienmitglied oder jeder Nachbar wird es schaffen, diese schreckliche Zeit zu überleben.
So beschreibt Shelly Kupferberg große Teile ihres Buches aus Sicht ihres Großvaters, lässt ihn zum Beispiel 1956 durch Wien wandern und die Stadt aus historischer Perspektive betrachten. Denn trotz allem vermisst Walter die Stadt seiner Jugend und fühlt sich dem europäischen Lebensgefühl mehr verbunden, als dem jüdisch-orthodoxen. So schafft es die Autorin, nicht nur in den Schilderungen der Deportationsszenen oder in den Akten öffentlicher Erniedrigung für Emotionalität zu sorgen. Mindestens ebenso bewegend sind die Szenen, in denen Menschen ihrer kulturellen und emotionalen Heimat entrissen werden. Eine Lücke, die sich niemals gänzlich füllen lässt.
Topaktueller, wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur
Angesichts der momentanen politischen Debatten ist dieses Buch wichtiger denn je. Denn es zeigt, wie schnell und schonungslos radikale Gesinnungen auf die Allgemeinheit überspringen können. Eben noch hat man sich bei ausschweifenden Dinners gemeinsam vergnügt, plötzlich kennt man einander nicht mehr auf der Straße. Mal aus Neid, mal aus Gier trachten Nachbarn und Bedienstete danach, sich den jüdischen Wohlstand anzueignen. Der Staat nimmt ohnehin Wohnungen, Wertgegenstände und sämtliche Besitztümer für sich ein. Die Juden können weder hierhin noch dorthin. Aus reiner Schikane werden ihnen Ausreisepapiere verwehrt oder nur gegen horrende Summen verkauft, die sie nicht aufbringen können, weil sie bereits enteignet wurden. Die Überfahrt nach Amerika ist kostspielig, im gelobten Land Palästina schlägt Ihnen neuer Hass entgegen. Zudem: Was sollten Geschäftsleute und Gelehrte mit Hacke und Spaten in einem Kibbuz anfangen?
Es gibt nur noch wenige Persönlichkeiten wie die 102-jährige Margot Friedländer, welche die Erinnerungskultur des Holocausts am Leben halten können. Umso schöner, dass auch Shelly Kupferberg dafür gesorgt hat, dass die Geschichte ihres Urgroßonkels Isidor und ihres Großvaters Walter nicht in Vergessenheit geraten ist. Ein wichtiges Stück Erinnerungskultur, hinterlegt mit starken Szenen (eine davon bringt Klarheit ins Titelcover). Bewegend!
Shelly Kupferberg: Isidor.
Diogenes, März 2024.
256 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.