Abermals wählt Kent Haruf wie bereits in seinem vorangegangenen Buch „Unsere Seelen bei Nacht“, die fiktive Stadt Holt in Colorado als zentralen Ort seiner Romanhandlung. Diese Kleinstadt mit seinen Menschen die er dort ansiedelt, entspricht überzeugend der Lebensrealität im Mittleren Westen der USA. Es sind die Lebensausschnitte während eines knappen Jahres von sieben Protagonisten aus Holt mit authentisch wirkenden Dialogen und treffend zugeschnittenen Charakteren, die der Autor schildert.
Die Handlungen drehen sich zum einen um die beiden neun- und zehnjährigen Brüder Bobby und Ike. Sie müssen miterleben, wie ihre depressive Mutter sich dem Familienleben immer weiter entfremdet und entzieht und die Familie schließlich verlässt. Die Brüder sind ein eingeschworenes Team und für so manches, was sie in und um Holt erleben, sind sie noch viel zu jung. Ihr Vater Guthrie versucht so gut es geht, für Bobby und Ike da zu sein, und oberflächlich betrachtet arrangieren sich die drei mit ihrer Situation recht gut. Dennoch kann Guthrie seine Jungen nicht vor allen Unannehmlichkeiten des Lebens schützen.
Ein anderer Erzählstrang handelt von der siebzehnjährigen Veronica Roubideaux. Ihre Mutter verstößt das Mädchen, nachdem Veronica schwanger geworden ist. Die Lehrerin Maggie Jones arrangiert, dass Veronica bei den beiden alten McPheron-Brüdern Harold und Raymond ein neues Zuhause findet. Allein die Charakterisierung dieser zwei eigenbrötlerischen aber gutmütigen und rechtschaffenen Farmern, deren Welt sich zeitlebens nur um den Stall und Kühe gedreht hat, und ihre teils unbeholfenen Bemühungen, der schwangeren Jugendlichen zu helfen, lesen sich gleichermaßen so amüsant wie wahrhaftig.
Die Gewichtung von Harufs Erzählstil liegt in der Bedeutung der Handlungen. Beispielsweise als Bobby und Ike ein Armband und Münzen auf den Eisenbahnschienen von einem Zug platt walzen lassen und die zerstörten Teile danach in der Erde verbuddeln. Dies geschieht, nachdem sie in einer Wohnung die verstorbene Mrs Stearns gefunden haben und den beiden zudem klar geworden ist, dass ihre Mutter nicht mehr zu ihnen zurückkommen wird.
Schön lesen sich vor allem Harufs plastische Beschreibungen wie unter anderem über das Dachfenster mit Fliegendraht, „der so seltsam herunterhing, dass das Fenster aussah wie ein schläfriges Auge“, oder ein Detail aus einem Zimmer, in dem „zwei abgewetzte, karierte Sessel wie übergroße, fügsame Haustiere vor einem Fernsehgerät standen“… Es sind die großen Themen Liebe, Hass, Hoffnung, Tod und Mut, die Kent Haruf streift und in die Alltagsabläufe einer Kleinstadt einfließen lässt.
Am Ende schließt sich der Kreis der Geschichten.
Kent Haruf: Lied der Weite.
Diogenes, Januar 2018.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.
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