John Irving: Straße der Wunder

wundIn seinem 770-Seiten-Wälzer „Straße der Wunder“ hat John Irving zu alter Fabulierlust zurückgefunden: Ähnlich wie etwa in „Das Hotel New Hampshire“ erfindet er viele kleine makabre, skurrile und oft so witzige Begebenheiten, dass man beim Lesen lauthals lacht.

Die Geschichte beginnt mit zwei Halbwaisen, die auf einer Müllkippe in Mexiko aufwachsen. Das Mädchen, Lupe, kann zwar die Gedanken anderen Menschen lesen, hat aber Probleme beim Sprechen. Nur ihr hochbegabter Bruder Juan Diego kann sie verstehen und fungiert als ihr Übersetzer. Dann muss Juan Diego einen Schicksalsschlag hinnehmen: Sein Fuß wird von einem LKW überrollt und dabei so stark verletzt, dass er für den Rest seines Lebens gehbehindert bleibt.

„Straße der Wunder“ wechselt zwischen drei Zeitebenen: dem Leben der Kinder auf der Müllkippe, ihrem späteren kurzen Aufenthalt in einem Zirkus und schließlich einer Reise, die Juan Diego viele Jahre später als Schriftsteller auf die Philippinen führt.

John Irving bedient sich in diesem Roman vieler Motive, die auch in seinen vorherigen Büchern eine Rolle spielten: Wie in „Owen Meany“ nehmen Religion und die Religionskritik einen großen Part ein: Die Halbwaisen, die von Ordensbrüdern betreut werden, verehren abwechselnd die Jungfrau Maria und „Unsere Liebe Frau von Guadalupe“, eine mexikanische Nationalheilige. Der Zirkus kommt genauso wieder vor wie das Thema Aids. Auch einen Bezug zur „wilden Geschichte vom Wassertrinker“ und zu anderen Irving-Büchern gibt’s. Vor allem die Fans und Kenner des 1942 geborenen amerikanischen Autors dürften an diesem Buch ihre Freude haben. Kleine Ausflüge ins Übersinnliche und ganz viel Sex sind weitere Bestandteile.

Man könnte dem Buch vermutlich vorwerfen, dass es an der einen oder anderen Stelle etwas gedehnt wirkt – vor allem bei den Passagen rund um die Jungfrau von Guadalupe – und dass sich Irving wiederholt (ein altbekannter Vorwurf gegen ihn). Auf der Positivseite stehen aber ganz sicher sein Gespür für Humor, sein Talent als Erzähler von fesselnden Geschichten, seine Phantasie und die Liebe zu allen Figuren, die aus seinem Text herausscheint.

John Irving: Straße der Wunder.
Diogenes, März 2016.
784 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.

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