In seinem jüngsten Roman „Hotel Milano“ greift Tim Parks die Lebensumstände während des Corona-Lockdowns auf. Plötzlich befindet man sich wieder mitten in jener Atmosphäre mit Ausgangssperren, Masken, Handgel, Kontrollen, geschlossenen Restaurants, ausverkauften Läden, leeren Straßen.
Der Protagonist Frank Marriot scheint den Ernst der Corona-Situation nicht realisiert zu haben. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Sicherheitsvorkehrungen und Verbote zu verschärfen drohen, fliegt er ins Zentrum der Epidemie nach Mailand. Dort will er an der Beerdigung seines einstigen Freundes und Verlegers Dan Sandow teilnehmen.
Dabei dürfte Frank nach allem, was in der Vergangenheit zwischen ihnen beiden vorgefallen ist, weder ein schlechtes Gewissen, noch die geringste Veranlassung verspüren, Dan die letzte Ehre erweisen zu müssen. – Schon gar nicht in der gegebenen prekären Situation. Aber irgendwie hat Frank die möglichen Restriktionen und Gefahren von Corona so gar nicht im Fokus. Hauptsächlich hofft er insgeheim darauf, bei der Beerdigung seiner geschiedenen Frau Connie zu begegnen.
Entgegen allen Warunungen macht Frank Marriot sich auf den Weg und steigt zentral im exklusiven Grand Hotel Milano ab.
Die Situation bei der Beerdigungsfeier entwickelt sich zu einer makaber anmutenden Zeremonie, die Frank aber ganz gut hinter sich bringt. Immer wieder lässt Frank die Leser an seinen Gedankengängen teilhaben und dabei erfährt man unter anderem von seiner Beziehung zu seiner zweiten Frau Rachel, die verstorben ist. So wird die Reise nach Milano für Frank auch eine Reise in seine Vergangenheit und in sein Seelenleben. Dass die Corona-Situation und die damit verbundenen Einschränkungen mit Ausgangssperren sich währenddessen immer weiter zuspitzen, wird Frank dabei gar nicht so recht bewusst. Zu sehr ist er immer nur mit sich selbst beschäftigt.
Schon in seiner ersten Nacht im Hotel wird er von einem Hämmern über seiner Zimmerdecke wachgehalten. Als er der Störung nachgeht, stößt er auf den kleinen Hakim und seine Familie. – Es handelt sich um Migranten, die unentdeckt vom Hotelpersonal über ihm hausen. Frank wird zum Helfer in der Not, obwohl er in Anbetracht seines Alters besser auf seine eigene Gesundheit achten müsste. Die Migrantenfamilie bringt Frank in noch weitere Nöte. Immer öfter sieht er sich fast unüberwindlichen Hürden ausgesetzt.
Die veränderte Lebenssituation durch Corona, seine vergangenen Lieben und Beziehungskonflikte und das immer wieder aufs Neue geforderte Überdenken seiner Haltung gegenüber den Fremden bringt Frank nicht nur zum Nachdenken und Überdenken seiner Einstellungen sondern in so manch groteske Situation und letztlich auch an seine körperlichen Grenzen.
Durch die den Plot dominierenden Geschehnisse „Epidemie mit Restriktionen“ sowie „Migration“, greift Tim Parks mit „Hotel Milano“ Zeitzeugnisse der Gegenwart auf.
Tim Parks wuchs in London auf und studierte in Cambridge und Harvard. Seit 1981 lebt er in Italien. Seine Romane, Sachbücher und Essays wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet. Er schreibt unter anderem für den Guardian und The New Yorker.
Tim Parks: Hotel Milano
übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Becker
Kunstmann, September 2023
gebundene Ausgabe, 240 Seiten, 24,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.