Der Protagonist Simon aus Stefan Mosters neuem Roman „Bin das noch ich“, ist Berufsmusiker und spielt Violine im Orchester. Er ist froh, dass die Coronazeit überstanden ist. Viele der Musikerkollegen, die mit ihm für die aktuellen Konzerte in Finnland gebucht sind, kennt er von vorhergehenden Auftritten. Dennoch ist diesmal etwas anders.
Simon hat Angst, dass die Finger seiner linken Hand wieder versagen könnten.
Dann passiert, was er befürchtet, aber immer wieder verdrängt hat und holt ihn in voller Härte ein: Er patzt. Vor dem Publikum. Alles, was sein Leben bislang ausgemacht hat, alles, was er verkörpert hat, ist nun durch einen kleinen Defekt zunichtegemacht. Hier stellt Simon sich die existentielle Frage: Bin das noch ich?
Seiner Musikerkollegin Mai ist der Ernst der Situation für Simon bewusst und will ihm helfen. Sie bringt ihn auf eine winzige Schäreninsel zu ihrem unbewohnten Haus. Hier soll Simon über sich und die Zukunft nachdenken.
Allein auf sich gestellt und ohne Verbindung zur Außenwelt, weil er sein Handykabel nicht dabei hat, versucht Simon die Zeit anfangs irgendwie zu überstehen. Irgendwann ist er so weit und kann seinen Gedanken freien Lauf lassen. Dabei helfen ihm Briefe, die er nie abschicken wird, an Daria, eine Geigerin. Lange schon hat er keinen Kontakt mehr zu der erfolgreichen Musikerin, die Karriere gemacht hat und auf den großen Weltbühnen zu Hause ist. Ganz nebenbei benutzt der Autor Darias russische Herkunft auch als Verbindungsglied zu Hinweisen auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine, was er immer wieder aufgreift. Immer schon hatte Simon Bewunderung für Daria gehegt. Immer war ihm bewusst, dass er es mit seinen musikalischen Fähigkeiten nie so weit bringen würde wie sie. Daria war ein Wunderkind. Mit Fleiß und Ausdauer hat sie sich auf Kosten einer nie gelebten Kindheit ihre Karriere geebnet. Sie hat die Erwartungshaltungen, die man an sie stellte, erfüllt.
Simon ist sich bewusst, dass er die Erwartungshaltungen nicht erfüllen kann. Weder seine eigenen, noch die seiner Agentin, noch die seiner Eltern. Letztlich auch nicht die Erwartungshaltung, die indirekt von seinem Instrument auf ihn ausgeht. Schließlich ist seine Mutter stolz auf ihn und die Großeltern haben einst vierzehn Hektar Wald zur Finanzierung seiner Stradivari verkauft. Nun will er sein Instrument nicht mehr anrühren. Sein Gehirn wehrt sich dagegen.
Draußen in der Natur beginnt er das Verhalten von Vögeln zu beobachten und die Vogelstimmen auf sich wirken zu lassen. Sind es Melodien? Sind es einfach nur Klänge oder ist es Musik, was die Vögel produzieren? Woher nahmen Bach oder Bartók, deren Sonaten er gern gespielt hat, ihre Inspirationen? Er erkennt Parallelen zu Bartóks Leben, der im Alter mit größten Einschränkungen durch gesundheitliche Probleme zu kämpfen hatte.
Simon verlängert seinen Aufenthalt auf der Schäreninsel. Er beginnt sich körperlich zu fordern, greift zu Axt und spaltet Holz, übt sich im Bogen schießen und getraut sich mit Mais Boot aufs Meer hinaus. Draußen in der Natur findet er Antworten und zu sich selbst.
Stefan Moster hat in „Bin das noch ich“ Kunst und Natur stimmig miteinander verwoben.
Stefan Moster ist Jahrgang 1964. Er wurde in Mainz geboren und lebt heute als Autor, Lektor und Übersetzer finnischer Literatur in Berlin und Finnland. Bei Schreiblust-Leselust wurden von ihm bereits seine vorangegangenen Romane „Neringa: Oder die andere Art der Heimkehr“ und „Alleingang“, für den er 2019 mit dem Martha-Saalfeld-Preis ausgezeichnet wurde, besprochen.
Stefan Moster: Bin das noch ich.
Mareverlag, August 2023.
Gebundene Ausgabe, 272 Seiten, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.