Der provokante Buchtitel lässt bereits auf den Inhalt schließen. Dafür sorgen auch Statements wie: „Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen!“ Eine aus Indien stammende Dolmetscherin für die Asylbehörde schlägt in der Metro einem Migranten eine Weinflasche über den Kopf. Im Polizeirevier will der Beamte wissen, wie es dazu kommen konnte. Gemeinsam begleiten wir die Ich-Erzählerin zu ihrem auslaugenden Arbeitsalltag. In einer nicht enden wollenden Flut werden ihre ehemaligen Landsleute wie „Quallen“ in die Besprechungszimmer der Behörde gespült. Die Schleuser verkaufen den Männern nicht nur die Überfahrt und gefälschten Papiere, sondern auch die immer gleichen Geschichten, die sie vor den Beamtinnen vorbringen sollen. Bei näherer Befragung können diese jedoch schnell als Lügenkonstrukt entlarvt werden. Es gibt Männer, die behaupten, als Christen verfolgt worden zu sein. Doch sie wissen nicht, was an Weihnachten gefeiert wird oder wer die Heiligen Drei Könige sind. Es gibt Männer, die behaupten, von einer gegnerischen Partei bedroht zu werden, denen aber jegliche politische Grundbildung fehlt.
Mal reagieren die Antragsteller unterwürfig-devot, mal aggressiv-fordernd. Sie stammen aus einem Land, in dem arrangierte Ehe legitim sind und Frauen wenig zu sagen haben. Hier nun entscheiden zwei Frauen über ihre Zukunft!
Die Ich-Erzählerin empfindet für sie nichts als Scham, Wut und Ablehnung. Die Migranten aus dem Subkontinent verkörpern für sie all das Schlechte, was sie in ihrer Heimat zurückgelassen hat, die Armut und die Mittelmäßigkeit. Und sie werfen ein schlechtes Licht auf sie – die offene, kluge Übersetzerin, die sich bestens integriert und hochgearbeitet hat, die ihre neue Heimat Frankreich liebt und in einer besseren Wohngegend lebt. Ganz besonders schämt sie sich für ihre vermeintlichen Landsleute, wenn sie mit der Beamtin Lucia zusammenarbeitet. Lucia verkörpert für sie all das Gute. Sie liebt ihre blonden Haare, die stahlblauen Augen, ihr sicheres Auftreten. Immer mehr vermischen sich erotische Untertöne in die schwärmerische Beziehung. Doch Lucia geht auf Distanz, während die Erzählerin ihre innere Leere kurzfristig durch sexuelle Abenteuer mit wechselnden Liebhabern zu füllen versucht. Sie empfindet ebenso Ekel für die Helferinnen, die ihren Schützlingen alles durchgehen lassen. Sogar, dass manche mit der Fatwa gegen eine Schriftstellerin sympathisieren, die sie selber gerne liest. Sie weiß, dass diese Männer auch sie verachten, den Lebensstil, den sie pflegt.
Die Erzählerin berichtet dem Beamten von ihrer Heimat, von dem Ekel, den sie gespürt hat, als sie ihre Eltern besucht hat. Ihre bettelnden Hundeblicke, die von Armut gebeugten Gestalten – unerträglich! Auch der Beamte fühlt sich zunehmend unwohl. Er bekommt die Erzählerin nicht zu fassen, kann sie in keine Schublade stecken. Sie konfrontiert ihn mit Aspekten, die auch er nicht wahrhaben will.
Im schnellen Stakkato wirft uns die Autorin die Gedankengänge hin, fast so als wolle sie diese ausschreien oder ausspucken. Ihre Bilder ätzen sich ins Gedächtnis, rufen Unbehagen hervor. Schönheit wird alsbald im Folgesatz relativiert. Die Palmen und Reisfelder der Heimat sind hinweggespült von den Fluten der übertretenden Flüsse. Die in Kalkutta geborene Shumona Sinha die seit 2001 in Paris lebt und dort studiert hat, ist selbst als Dolmetscherin für die Asylbehörde tätig gewesen. Eine Arbeit, die sie nach der Veröffentlichung dieses Romans verloren hat. „Erschlagt die Armen!“ erhielt de „Internationalen Literaturpreis“ und weiteren Auszeichnungen.
Der Roman nimmt sich dem Thema Asyl von einer ganz neuen Seite an. Er beschreibt dies aus den Augen einer ehemaligen Migrantin, die sich selbst nicht mehr als solche sieht. Die Autorin klagt die Schleuserindustrie an, das Versagen der Behörden. Und sie stellt das Schicksal jener Männer dar, die in ihrem Streben nach „dem weißen Horizont“ aus allen Welten fallen, die in winzigen Kellerlöchern hausen und versuchen, dort Wurzeln zu schlagen. „Letztendlich war es nichts als schneller Sex zwischen den Männern und dem Land, ein Verlangen ohne Liebe.“
Fazit: Ein wichtiges, aufrüttelndes Buch, das unter die Haut kriecht und Unbehagen hervorruft. Mit Wörtern und Bildern, die wie ein Monsun über die Leser hereinregnen.
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!.
dtv, März 2019.
128 Seiten, Taschenbuch, 10,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.