Roy Jacobsen: Die Unwürdigen

Leben im besetzten Oslo – bedrückend, voller Abenteuer, lebensgefährlich

Wieder ein furioser Roman des Norwegers. „Die Unwürdigen“ steht seinem Buch „Die Unsichtbaren“ in nichts nach.

Wer macht sich schon bewusst, wie das Leben eines Jugendlichen, einer Heranwachsenden in einer besetzten Stadt gewesen sein muss. Wer weiß, was in den jungen Menschen vorging, die während eines Weltkrieges in einem besetzten Land leben. Besonders, wenn es um Jugendliche geht, die man heutzutage abgehängt nennt, die nicht wissen, wie sie morgen etwas zu essen bekommen, deren Geschwister vor Hunger weinen, deren Mütter müde und abgekämpft, die Väter arbeitslos und ohne Perspektive sind.

Davon erzählt dieser fulminante Roman. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe Kinder, die in einem heruntergekommenen, armen Viertel Oslos leben, in den Jahren 1942 und danach, als die Stadt, wie das ganze Land, von den Deutschen besetzt ist. Alle leben in sehr einfachen Verhältnissen, die Väter können von Glück reden, wenn sie Arbeit haben, die Mütter müssen mit dem wenigen, was sie haben, die Familien versorgen.

Da ist es unabdingbar, dass auch die größeren Kinder, die Jugendlichen, irgendwie Geld verdienen oder auf andere Weise etwas zum Unterhalt der Familie beitragen. Zentrum der Handlung ist Carl, der mit Mutter, Vater und seinen beiden Schwestern in einer kargen Wohnung lebt. Seine Freunde sind Olav, Vidar, Jan, Roar. Olav ist so etwas wie der inoffizielle Anführer der Gruppe, die, statt zur Schule zu gehen, erst kleine, dann immer größere Diebstähle begeht. Auch Arbeit suchen und finden sie, sogar bei den verhassten Deutschen. Als Carls Vater verhaftet wird, der Vater eines anderen Jungen verschwindet, als Olavs Mutter immer öfter fortbleibt und er seine kleinen Geschwister versorgen muss, immer halten die Jungen zusammen, teilen ihre Beute, behalten nichts für sich, geben es an ihre Familien. Und all das unter den Augen der Besatzer, die sie auch gerne mal ausspionieren.

Jacobsen erzählt diese Geschichten, diese kleinen und großen Begebenheiten mit Lakonie, mit leichter Distanz. Ohne in die Gefühlsschiene zu fallen, ohne die Tränendrüsen zu drücken – und genau deshalb umso ergreifender, um so erschütternder. Man sieht die ramponierten Wohnungen, die desolaten Einrichtungen, die zerschlissene Kleidung vor sich, man spürt den Hunger und die Kälte, fühlt die Angst. Dabei erzählt er nicht immer alles aus, lässt vieles im Vagen, Vermuteten, macht Andeutungen, überlässt es der Leserin, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.

Die Bücher von Roy Jacobsen sind etwas ganz besonderes. Wie die alten klebrigen spiralförmigen Fliegenfänger hat der Autor die Leserin mit dem ersten Satz eingefangen und lässt sie nicht mehr los.

Ein hochspannender, emotionaler, historisch wichtiger Roman, der unbedingt zu empfehlen ist.

Roy Jacobsen – Die Unwürdigen
aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
C.H. Beck, August 2023
Gebundene Ausgabe, 331 Seiten, 26,00 €

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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