Rebecca Wait: Das Vermächtnis unsrer Väter

Tommy ist gerade einmal acht Jahre alt, als der Vater sich selbst, Tommys Mutter, den wenig älteren Bruder und seine kleine Schwester erschießt. Nach der Tragödie zieht Tommy für kurze Zeit zu seinem Onkel Malcolm im gleichen Ort. Doch dort kann er nicht bleiben und er verlässt das verschlafene schottische Dörfchen schon bald. Zwanzig Jahre später kehrt Tom, der seinen niedlichen Kosenamen längst abgelegt hat, an den Ort des Geschehens zurück und zieht ein paar Tage zu seinem Onkel ins Haus. Für beide kommen Erinnerungen hoch und es stellen sich die alten Fragen: Hätte man das Unglück verhindern können? Gab es irgendwelche Anzeichen, auf die man hätte achten müssen?

Der Roman wird überwiegend aus zwei Perspektiven erzählt. Die des erwachsenen Toms und seines Onkels Malcolm. Das Unglück liegt zu diesem Zeitpunkt gut zwanzig Jahre in der Vergangenheit. Man spürt aber an den Reaktionen aller Haupt- und Nebenfiguren, dass es noch nicht komplett verarbeitet und vielleicht niemals vergessen sein wird. Die Bewohner des kleinen Ortes reagieren irritiert, als sie Tom wiedersehen und er spürt ihre Ablehnung teilweise deutlich. Rebecca Wait trifft dabei immer genau den richtigen Ton und wirft ihre Fragen sehr behutsam auf. Es geht nicht nur darum, ob das Unglück hätte verhindert werden können, sondern auch um die Frage, was einen Menschen zu dem Menschen gemacht hat, der er in der Gegenwart ist. Welchen Anteil hat die Erziehung durch die Eltern, der Ort des Aufwachsens, das Erlebte? All diese Fragen sind in „Das Vermächtnis unserer Väter“ glaubhaft umgesetzt, wenn auch vielleicht nicht abschließend beantwortet. Das ist aber auch eine Stärke von Waits Romans: Man ist als Leser oder Leserin dazu angehalten, sich selbst Gedanken über das Geschehene zu machen. Dass die Autorin dabei nicht alles beantwortet, ist sogar positiv zu erwähnen.

„Das Vermächtnis unserer Väter“ ist ein ruhiger Roman, emotionslos ist er aber beileibe nicht. Viele widersprüchliche Emotionen spielen in Tom, Malcolm und den Dorfbewohnern eine Rolle. Selbst die Nebenfiguren kommen dabei keinesfalls zu kurz. Man spürt ihre Ablehnung, ihre Betroffenheit und ihre Ohnmacht in der Frage, ob sie selbst das Unglück hätten verhindern können. Eine der Bewohnerinnen wurde beispielsweise kurz vor der Tragödie von Katrina, Toms Mutter, gefragt, ob diese mit den Kindern für kurze Zeit bei ihr unterkommen könnte. Was wäre wohl passiert, wenn sie Ja gesagt hätte? Wäre dann alles ganz anders gekommen? Hätten vier Menschen überlebt? Fragen über Fragen, für die Rebecca Wait immer genau den richtigen Ton findet.

Ein lesenswertes, kleines Werk über Schuld und die Dinge, die einen zu dem Menschen machen, der man geworden ist.

Rebecca Wait: Das Vermächtnis unsrer Väter.
Kein & Aber, September 2019.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.

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Ein Kommentar zu “Rebecca Wait: Das Vermächtnis unsrer Väter

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