Das Unheil beginnt, als ein alternder Charmeur in einer Karaoke-Bar in Florida den Hut abgibt. Dass er dabei einer drallen Blondine das Oberteil herunterreisst passt zu dem Verstorbenen, denn niemand geringeres als Anansi, ein Göttlicher Tunichtgut, gibt hier seine letzte Vorstellung. Die göttliche Spinne hinterlässt zwei Söhne, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Der eine, Fat Charlie mit Namen, ist ein gehemmter, introvertierter Duckmäuser mit Ärmelschonern über dem Charisma, der in London sein recht karges Dasein als Buchhalter fristet. Der andere, Spider genannt, wurde von seinem Vater mit allen magischen Gaben bedacht und nutzt diese weidlich. Er führt ein Dasein als Lebemann und Hochstapler, tänzelt von einer Party zur Nächsten und fasziniert die holde Weiblichkeit mit seinem Charme und Esprit.
Als er dann aber seinem Bruder die Verlobte ausspannt ist endgültig schluss mit lustig. Fat Charlie, der Loser ist richtig sauer und schwört Rache. In den nächsten 2 Wochen wird Fat Charlie von der Polizei wegen Betrugs verhaftet, verliert seine Verlobte endgültig an seinen halbimaginären Bruder, fliegt zwischen den Kontinenten hin- und her wie ein unzurechnungsfähiger transatlantischer Pingpongball, muss zusehen, wie sein Bruder auf den Piccadilly Circus von Vögeln gefressen wird, besucht die Beerdigung eines Gottes, der gleichzeitig sein Vater ist und macht, während er in einem Restaurant vor einem Mörder »Under the Boardwalk« singt, einer Londoner Polizistin auf der Karibikinsel Saint Andrews einen Heiratsantrag. So ganz nebenbei besucht er noch die alten, halbvergessenen Götter, beginnt den magischen Rachefeldzug gegen seinen Bruder und verliebt sich in eine übereifrige Polizistin – und er erbt einen grünen Filzhut…
Sind Sie angesichts dieser Aufzählung verwirrt, zweifeln Sie gar an der geistigen Gesundheit des Rezensenten? Nun, dann greifen Sie selbst zu New York Times Bestseller von Neil Gaiman, der etwas anderen, ungewohnten und abgedrehten Fortsetzung, obwohl dies ein Begriff ist der diesmal nicht trifft, von Gaimans gefeierten »American Gods«.
Gaiman überrollt seinen Leser förmlich mit einer zunächst chaotisch wirkenden Handlung. Wie passt das alles zusammen, wie wird er die so unterschiedlichen Stränge miteinander verweben, kann sich dieses Gewirr an überdrehten Ereignissen überhaupt zu einem logischen Ganzen verknüpft werden, das fragte ich mich zu Beginn der Lektüre. Dabei nahm mich die Handlung von der ersten Seite an in ihren Bann. Es sind zunächst nicht unbedingt die phantastischen Sequenzen, die mich faszinierten. Es sind die Alltagsdarstellungen, die messerscharfen Beobachtungen und Schilderung von scheinbar alltäglichen Begebenheiten, von Personen die eine eigene Wirklichkeit ausstrahlen, die mich fasziniert haben.
Alle auftretenden Personen werden in einer Weise portraitiert, das man den (grünen) Hut vor dem Autor ziehen muss. Mit ein paar wenigen Pinselstrichen charakterisiert Gaiman seine Personen, verleiht ihnen markante Tiefe und Leben. Sie alle kommen uns bekannt vor, der Loser, der Frauenschwarm, der coole Businessman, die engagierte Polizistin, die verknöcherte Witwe und die keusche Jungfer entsprechen den bekannten Klischees.
Dann aber beginnt Gaiman seine Protagonisten, zunächst unmerklich, zu verändern. Schleichend entwickeln sie sich abseits des Gewohnten, offenbaren neue Kanten, reifen und überraschen uns durch unerwartete Entwicklungssprünge. Dazu gesellt sich mit der Dauer der Lektüre ein förmlich überbrodelnder Reichtum an phantastischen Begebenheiten.
Eingebettet in das uns so bekannt wirkende Alltagsgeschehen folgt Gaiman der uralten Tradition der Geschichtenerzähler am Lagerfeuer, berichtet uns von Göttern und ihren Eigenheiten, ihrer Selbstgefälligkeit und ihren Animositäten.
Vor unseren staunenden Augen entfaltet sich das Panorama eines Götterpantheon, das all die kleingeistigen Auseinandersetzungen des menschlichen Lebens widerspiegelt.
Verborgen unter dieser faszinierenden, von Leben förmlich überquellenden Kulisse setzt sich der Autor mit der Frage des woher komme ich, wohin gehe ich, der Selbstfindung und der Übernahme von Verantwortung für sich und sein Handeln auseinander. Wie immer ist dies ein steiniger Weg, den sein Held und mit diesem der Leser zu beschreiten hat, ein Pfad aber der an seinem Ende einen Triumph verspricht, der alle Anstrengungen vergessen lässt.
In der wunderbaren Übersetzung von Karsten Singelmann, die von der Heyne Ausgabe übernommen wurde, erwartet den Leser ein Buch abseits der ausgetretenen Pfade, ein Buchereignis, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Neil Gaiman: Anansi Boys.
Eichborn, September 2018.
416 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Carsten Kuhr.