Maxim Leo: Wir werden jung sein

Kongenial und brillant! Niemals altern, bis hin zur Unsterblichkeit: Diesen ewigen, aber gleichfalls brandaktuellen Menschheitstraum beschreibt Maxim Leo in einem treffsicheren und vielschichtigen Roman. Sein literarisches Kunststück geht moralischen Denkanstößen, Chancen und Risiken nach. Sie werden anhand der Schicksale von vier Probanden dargestellt, die an einer Studie für ein neues Herzmedikament teilgenommen haben. Bei den verjüngenden Effekten handelt es sich um eine nicht eingeplante Nebenwirkung. Die Protagonisten erleben so manche Überraschung, positiv wie negativ. Denn wie heißt es doch so schön: Alles im Leben hat seinen Preis. Sogar die ewige Jugend.

Ewige Jugend hat Nebenwirkungen
Die biologische Uhr um 10 bis 20 Jahre zurückdrehen, schöner und leistungsfähiger sein. Wer möchte das nicht? Antwort: der 16-jährige Jakob. Der Schüler mit einem Herzleiden hat endlich eine Freundin gefunden, doch statt dem erhofften „Ersten Mal“ herrscht plötzlich tote Hose. Kein Wunder, denn sein biologisches Alter verjüngtsich nach Einnahme des neuartigen Medikamentes auf Kindergartenniveau. Unternehmer und Millionär Wenger plant eigentlich schon seinen Abgang, als sich sein Zustand plötzlich wieder verbessert. Dumm nur, dass Familie und Angestellte, die dem patriarchalischen alten Führungsstil des Oberhaupts schon lange überdrüssig geworden sind, davon nicht allzu begeistert scheinen. Eine ausgemusterte Spitzensportlerin stellt neue Weltrekorde auf und gerät prompt unter Dopingverdacht. Lehrerin Jenny hat die Hoffnung auf ein Kind bereits aufgegeben, als sie plötzlich schwanger wird, aber nicht weiß, von wem…

Unsterblichkeit aus ethischer Sicht
Neben diesen vier Einzelschicksalen, die mit den Auswirkungen ihrer unverhofften Verjüngungskur klar kommen müssen, packt Autor Maxim Leo die Stimmen der Wissenschaft und Ethik in seinen Plot. Erstere wird verkörpert durch den Studienleiter und Erfinder des Herzmedikamentes Professor Martin Moosländer. Er ist ein Eigenbrötler, dem es rein um die medizinische Materie geht, um die Machbarkeit des Undenkbaren, ohne die gesellschaftlichen Konsequenzen zu beachten. Miriam Holstein, Professorin für Medizinethik und Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung, befasst sich genau mit diesen Konsequenzen. Sie wirft allerlei unangenehme Fragen auf, die hinter dem vermeintlichen Wundermittel lauern.

Bleibt die Unsterblichkeit einzig den oberen Zehntausend vorbehalten, den Musks und Gates dieser Welt? Geht der Jungbrunnen zu Lasten der jüngeren Generation, die auf eigene Kinder verzichten muss, um einen Bevölkerungskollaps zu verhindern? Kriegt derjenige, der theoretisch ewig lebt, keine Rente mehr? Was bedeutet all dies für eine Gesellschaft, die sich nicht mehr erneuern kann? „Stellen Sie sich vor, wie viel Kreativität, Dynamik, Lernbereitschaft und Fortschritt verloren gehen würden. Wie sehr wir uns selbst irgendwann langweilen würden, weil wir nur noch in der ewigen Wiederholung existieren.“ (s. 105) Doch die Vorbehalte der jungen Professorin stoßen in Regierungskreisen – bestehend aus alten, weißen, kränkelnden Männern – auf taube Ohren.

Alter als Frage des Geistes
Als die medizinischen Auswirkungen der Studien an die Öffentlichkeit gelangen, herrscht Chaos – bis hin zur Anarchie. Während bei Proband Wenger die Erkenntnis reift, dass Alter sich nicht nur auf die körperliche Ebene bezieht. Was ist, wenn man sich mit dem Tempo und den Werten der heutigen Zeit nicht mehr identifizieren kann? Wenger sind zum Beispiel Geburtstage suspekt. „Jeder wurde irgendwann geboren, selbst die größten Trottel hatten das geschafft. Alle, die auf diese Welt kamen, waren Sieger, waren aus Samenzellen entstanden, die sich gegen Millionen anderer Samenzellen hatten durchsetzen müssen, um als Erste in der Eizelle anzukommen. Wenn aber alle Sieger waren, fand Wenger, war es doch ziemlich lächerlich, sich dafür auch noch feiern zu lassen.“ (S. 26)
Mit Work-Life-Balance, Gendern und veganer Ernährung kann Wenger erst recht nichts anfangen. Es scheint, als wäre Wengers Zeit schlichtweg mental abgelaufen.

Brandaktuell: ein Buch der Stunde!
Mal feinfühlig, mal schwarzhumorig, aber immer sehr menschlich, meistert der Autor gekonnt den Spagat zwischen Wissenschaft, Ethik und den ganz normalen Alltagsproblemen seiner Figuren. Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, wurde 2011 für sein Werk „Haltet euer Herz bereit“ mit dem europäischen Buchpreis ausgezeichnet. Er schreibt Krimis, Bestseller über sprechende Katzen und Drehbücher für die „Tatort“-Reihe. Zudem war er jahrelang als Redakteur und Kolumnist für die Berliner Zeitung tätig. Da passt es nur zu gut, dass der Autor als augenzwinkernden Kommentar ein Foto von seinem jüngeren Selbst in den Klappentext packt.

Fazit: Ein Buch der Stunde, dass Sie unbedingt lesen sollten!Facettenreich wie der Mensch und mit gesellschaftlichen Fragen, die Ihnen noch lange unter den Nägeln brennen werden.

Übrigens: Utopie ist das alles nicht. Längst gibt es Methoden, um das Altern aufzuhalten. Bei jeder Zellteilung verkürzen sich die Enden der Chromosomen, die Telomere, um ein Stück. Sind die Enden zu kurz, kann sich die Zelle nicht mehr teilen und altert. Das Enzym Telomerase kann diesen Prozess aufhalten. Dumm nur, dass es vor allem in Krebszellen aktiv ist. Die Telomerase könnte also den Alterungsprozess aufhalten, aber gleichzeitig der Krebsrisiko erhöhen. Ein Paradoxon. Oder die Kehrseite der vermeintlich goldenen Medaille.

Maxim Leo: Wir werden jung sein.
Kiepenheuer & Witsch, März 2024.
304 Seiten, gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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