Marcel Sebastian: Streicheln oder schlachten.

Wir sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es üblich ist, Fleisch, Milchprodukte und Eier zu essen und Leder zu tragen. Gleichzeitig behandeln wir unsere Haustiere wie geliebte Familienmitglieder. Tut jemand seinem Hund Gewalt an, ist der gesellschaftliche Aufschrei groß. Woher kommt dann also der Glaube, dass es in Ordnung ist, das eine Tier zum Schlachter zu schicken und für das Nächste keine Kosten und Mühen zu scheuen, damit es ein schönes Leben hat?

Dr. Marcel Sebastian ist Soziologe und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gesellschaft im Hinblick auf die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Tier zu untersuchen. Seine Expertise teilt er in dem Sachbuch „Streicheln oder schlachten. Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns aussagt“ mit uns. Denn wie Dr. Sebastian feststellt, unterscheiden sich die Sichtweisen auf Tiere in unserer Gesellschaft immer stärker. Das hängt damit zusammen, dass diese Ambivalenz – also welches Tier man isst und welches nicht – zunehmend hinterfragt wird. Es ist also ein gesellschaftlicher Wandel im Gange. Dr. Sebastian erklärt, welche kulturellen und historischen Hintergründe unsere Sicht auf Tiere bis heute prägen. Dabei ist ihm wichtig zu betonen, dass das Buch eine Betrachtung aller Perspektiven anstellt und dadurch eine umfassende faktische Grundlage für die Debatte liefert. Jemanden von einer Position zu überzeugen, ist nicht das Ziel dieses Buches.

Was beim Lesen sofort auffällt, ist, dass das Sachbuch sehr mühevoll konzipiert und strukturiert ist. Es wurde darauf geachtet, alle Leser*innen bis zum Ende mitzunehmen, da die Kapitel konsequent in kurze Unterkapitel eingeteilt sind, die sich schnell lesen lassen. Der Schreibstil ist so flüssig und angenehm, dass die Komplexität des Themas sehr verständlich übermittelt wird. Ein Highlight sind die kleinen Illustrationen, die einen bei jedem Kapitel erwarten. Sie schaffen eine gewisse Leichtigkeit, die den teils schwer verdaulichen Inhalt etwas verträglicher macht.

Die Kapitelauswahl ist relevant, schlüssig und vielfältig. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme des Ist-Zustands – der da wäre, dass unser Verhältnis zu Tieren sehr kompliziert ist –, erklärt Dr. Sebastian, auf welche Weisen wir über Tiere nachdenken und streiten. Er führt über das ganze Buch hinweg ultraspannende Realbeispiele an, von denen einige, so zum Beispiel der Lasagnen-Pferdefleisch-Skandal, mediale Wellen geschlagen haben. Darüberhinaus stellt er gezielte Fragen an den richtigen Stellen, durch die man einen besseren Bezug zum Thema aufbauen kann.

Das nächste Kapitel widmet sich dann der Frage, ob wir Tiere essen dürfen. Auch dieses Kapitel ist – trotz seiner Brisanz – neutral verfasst und erläutert unter anderem, warum der Austausch von Mischköstler*innen und Veganer*innen viel Sprengstoff enthält. Auch spannende historische Komponenten wie die Agrarrevolution und das Wirtschaftswunder werden aufgegriffen. Dabei wechseln sich wachrüttelnde Zahlen mit noch wachrüttelnderen Anekdoten ab.

Darauf folgt ein interessantes Kapitel über Haustiere, in dem deutlich wird, dass wir in Tieren durchaus ein „Du“ sehen (können). Neben der Geschichte der Haustierhaltung klärt Dr. Sebastian darüber auf, ob und wann wir Tiere vermenschlichen und inwieweit das ein Problem darstellt.

Die nächsten Kapitel sind besonders relevant für die eigene Horizonterweiterung, da immer noch viele Aussagen die Debatte formen, die schlichtweg falsch sind; es geht um die grausame Tierindustrie und darum, was unser Konsum tierischer Produkte mit der Klimakrise, dem Artensterben und mit Pandemien zutun hat. Vor diesen Fakten würde man am liebsten die Augen verschließen, doch Dr. Sebastian schafft es, einen dadurch zu bringen und dem Ganzen am Ende sogar noch etwas Positives abzugewinnen.

In den letzten beiden Kapiteln werden dann nämlich Lösungen vorgestellt, wie wir in Zukunft an unserem bröckelnden Verhältnis zu Tieren arbeiten können. Dr. Sebastian findet genau die passenden Worte und bietet verschiedene Vorschläge an, die nicht abschreckend, sondern sogar erfrischend simpel sind. Hier ist wirklich für jede*n etwas herauszuholen, egal, an welchem Punkt man sich gerade befindet. Das wird auf den letzten Seiten mit motivierenden Worten untermauert, die den Schock etwas abmildern und Hoffnung schaffen, dass jede*r etwas verändern kann.

Ein besonderes Lob gebührt Dr. Sebastian dafür, dass er das Buch neutral und faktenbasiert verfasst hat. Denn im Gegensatz zu Veröffentlichungen aus tierrechtsaktivistischer Perspektive will dieses Buch einfach nur aufzeigen, warum die Gesellschaft so unterschiedlich über Tiere nachdenkt und Lösungen für die Zukunft anbieten. Allein schon wegen seiner Faktengrundlage ist dieses Buch ein absolutes Must-Read! Und gerade jetzt, wo ein Umschwung in der Gesellschaft passiert, ist es für uns alle dringend an der Zeit, sich über diese Thematik zu informieren. Für dieses Vorhaben ist das Buch „Streicheln oder schlachten“ die perfekte Chance. Denn dass die Rufe von Tierrechtler*innen immer lauter werden, sollte uns alarmieren.

Marcel Sebastian: Streicheln oder schlachten: Warum unser Verhältnins zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns aussagt.
Kösel, September 2022.
240 Seiten, Taschenbuch, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Melina Lange.

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