Von Judith Hermann wurden in unserem Leselust-Portal bereits zwei ihrer zuvor veröffentlichten Bücher vorgestellt: Lettipark, das 2016 erschienen, und Daheim, das 2021 erschienen ist.
Alle ihre Romane erfuhren große Beachtung. Die Autorin wurde mit zahlreichen Nominierungen und Preisen, unter anderem dem Blixen-Preis für Kurzgeschichten, dem Kleist-Preis, dem Friedrich-Hölderlin-Preis oder dem Bremer Literaturpreis für verschiedene Werke geehrt.
Ihr neues Buch nun, „Wir hätten uns alles gesagt“, ist an die Frankfurter Poetikvorlesungen angelehnt, wo Hermann über das Schweigen und Verschweigen im Schreiben doziert hat. Dabei hat die Dozentin Judith Hermann viel Privates, was ihr Schreiben beeinflusst hat, thematisiert. In den großen und kleine Problemen von denen wir lesen, geht es unter anderem um die familiären Verhältnisse der Autorin oder sie gewährt Einblicke in bestehende und vergängliche Freundschaften. Ihre Texte sind an das eigene Leben angelehnt, an dem sie entlangschreibt. Es geht dabei um Lebensgefühle, Lebensstationen, Wahrnehmungen, Veränderungen oder gleich zu Anfang des Romans um eine Psychoanalyse, die einen besonderen Stellenwert einnimmt.
Drei Teile
Von ihrem Psychoanalytiker Dr. Dreehüs sowie ihren Freunden Ada und Marco und teilweise von Familien handelt der erste Teil dieses Buches. Der zweite Teil fokussiert sich mehr auf Familiäres. Im dritten und letzten Teil geht es darum, wie Judith Hermanns Schreiben von diesen Einflüssen abhängt, welche Ereignisse sie letztlich zu Papier bringt, was sie daran verändert, was sie herausstreicht und wann sie etwas wieder neu erfindet. Manchmal wird aus einem Satz mit fünf Worten eine ganze Geschichte. Wir erfahren, dass für jede ihrer Geschichten ein Kern und ein erster Satz existieren. Es gibt eine Absicht etwas zu erzählen, was aber gleichzeitig im Verborgenen bleiben soll. So können Sätze entstehen, die zu nah an der Wirklichkeit sind und kein Geheimnis haben. Doch – und genau dies ist im Schreiben einer Geschichte möglich, kann man allem eine andere Richtung geben, Träume mit der Realität verweben und so die Welt verändern.
„Das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte“(eBook S. 61). Veränderungen und Verfremdungen von Geschichten hätten keine Bedeutung, so Judith Hermann, denn das ursprüngliche Motiv war ja einmal dagewesen.
„Schreiben heißt misstrauisch sein. Lesen heißt, sich darauf einzulassen. Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst“(eBook S. 77).
Judith Hermann lässt die LeserInnen in diesem Buch daran teilhaben, wie ihre Geschichten entstehen, von wem, bzw. wodurch sie beeinflusst sein können und wie sie sich verselbständigen und in eine andere Richtung entwickeln.
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt.
S. Fischer, März 2023.
192 Seiten, gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.