Nach dem Stillstand hat sich die USA von den Errungenschaften der modernen Zivilisation verabschiedet. Computer, Autos, Handys, Fernseherund die liebgewonnen elektronischen Gadgets des Alltags – alles weg! Lethams Protagonist mit dem Spitznamen „Journeyman“ hat Glück gehabt, dass er sich zum Zeitpunkt des beginnenden Stillstands auf einer abgelegenen Halbinsel im Osten der USA aufgehalten hat. Denn hier betreibt seine Schwester Maddy mit ein paar anderen Aussteigern eine Bio-Farm. Die kleine Gemeinschaft kann sich nach Zusammenbruch der Lieferketten selbst versorgen. Sie lebt abgeschottet von der Außenwelt, die Grenze zum Festland wird von den mysteriösen Mitgliedern der „Kordonisten“ gesichert. Gegen die Bezahlung von Lebensmitteln schützt der Trupp die friedlichen Bio-Bauern gegen feindliche, gewalttätigen Einflüsse von außen. Behauptet er zumindest. Durch das Fehlen jeglicher Kommunikationsnetze weiß niemand auf der Halbinsel, wie es um den Rest der Welt steht. Herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände beim Kampf um die letzten Ressourcen? So gehen die Insulaner lieber den fragwürdigen Schutzdeal mit den Kordonisten ein.
Überleben auf der Bio-Farm
Journeyman hat als erfolgloser Drehbuchschreiber aus Hollywood kaum Fähigkeiten, die der autarken Farmgemeinschaft von Nutzen sein könnte, weshalb er beim Metzger das Blut aufwischt und als Bote und Zwischenhändler mit den Kordonisten agiert. Alles scheint in geordneten, nahezu friedlichen Bahnen zu verlaufen, bis ein gewaltiges, furchterregendes Atom-Fahrgerät am Horizont auftaucht. In der Fahrkabine des sogenannten „Blue Streak“ sitzt Journeymans alter Collegefreund und Arbeitgeber Todbaume. Das erreget Aufsehen – und verursacht Ärger. Nicht nur, dass es sich hierbei um das letzte elektronisch betriebene Gerät der Welt handeln soll (dessen genauen Funktionsmechanismus niemand versteht und das nebenbei Boden und Wasser kontaminiert). Mehr noch: Der arrogante und selbstverliebte Todbaume verkörpert ein Relikt jener untergegangenen Welt. Überdies verbindet Maddy und Todbaume eine unliebsame Episode in ihrer Vergangenheit. Naht ein letztes Gefecht zwischen unterschiedlichen Wertesystemen?
Groteske Einfälle, kluger Humor
Dem mehrfach ausgezeichnete Autor Jonathan Lethem (u. a. Preisträger des National Book Critics Circle Award) geht es hier nicht postapokalyptische Action-Szenarien. In seinem Buch lässt Lethem seine LeserInnen zum Beispiel im Unklaren, wie es genau zu dem Stillstand kam, ob Klimawandel, Kriege oder sonstiges dahinter stecken. Vielmehr liegt der Fokus auf dem Menschlichen, den er im Mikrokosmos einer abgeschotteten Gemeinschaft wundervoll darstellen kann.
Seine Einfälle sind grotesk, überspitzt, teils comicartig, bisweilen überaus (wahn-) witzig – und treffen doch stets zielsicher in den Kern der Realität. Haben Menschen wie Todbaume, sprich: manipulativ, ausbeuterisch, ich-bezogen, zum Stillstand beigetragen? Konnte es so weit kommen, weil die breite Masse der Mitläufer eher dem Charakter von Journeyman entsprechen? Denn obwohl Journeyman von den moralisch fragwürdigen Aktionen seines Freundes weiß, ist er beruflich von ihm abhängig und schweigt. Behalten Menschen nach dem Ende der modernen Zivilisation ihren Charakter samt ihren Ansichten bei? Ist der Traum von „Back-to-the-roots“ wirklich so erstrebenswert?
Fazit: Trockener Humor, kluge Spitzen und eine ebenso universelle wie aktuelle Geschichte. Denn auch oder gerade wegen unserer durchdigitalisierten Welt leben wir letztendlich alle in einer „Bubble“ gleich dem im Buch genannten Mikrokosmos, um unseren täglichen Seelenfrieden zu bewahren. Höchste Zeit, sich zu dieser amüsanten, literarischen „Journey“ aufzumachen.
Jonathan Lethem: Der Stillstand.
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach.
Tropen, Februar 2024.
328 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.