Jonathan Lee: Joy

Joy – kein Name könnte abgründiger und paradoxer für die titelgebende Hauptfigur sein. Nach außen hin hat die erfolgreiche Londoner Anwältin Joy Stephens allen Grund zur Freude, doch dahinter es ganz anders aus. Genial, böse und schreiend komisch, inszeniert Jonathan Lee ihren geplanten Selbstmord. Der Autor wirft einen Blick in eine Welt, in der alle ständig mehr wollen, aber unterm Strich immer weniger haben. Die Szene ist knallhart, die Anwälte sind ausgebrannt, körperlich wie mental. Sie flüchten sich in Affären, Sport, Selbstoptimierung und teure Handtaschen. Dabei beschreibt der Autor die Geschehnisse so knochentrocken, dass es eine wahre Freude ist, in die Abgründe abzutauchen.

So gut organisiert Joy in ihrem Alltag auch sein mag, die Umsetzung eines möglichst sauberen Selbstmordes, der niemanden auf die Nerven geht, erweist sich als schwer kalkulierbar. Nichts, was eine Sauerei hinterlässt oder den Terminplan der Leute durcheinander bringt. „Und es schien doch ein bisschen schäbig, einen Wagen zu mieten, nur um ihn mit Abgasen zu füllen (und außerdem warf das alle möglichen Fragen auf: Wie weit ging man preislich? Fünftürer oder Kompaktklasse?)“ (S. 153)Rabenschwarzer, englischer Humor in seiner besten Form.

Selbstmord oder Unfall?
Ist sie aus Versehen gestürzt? Oder absichtlich gefallen? Diese Frage beschäftigt die Belegschaft einer Londoner Anwaltskanzlei. Denn just während der Feier, bei welcher die Beförderung der 33-jährigen Anwältin zur Kanzleipartnerin verkündet werden soll, stürzt Joy vor aller Augen in die Tiefe vom Balkon des Bürogebäudes. Ein Selbstmord scheint undenkbar. Schließlich ist Joy schön, klug, erfolgreich, wohlhabend. Joy wohnt im richtigen Stadtteil, kennt die richtigen Leute und hat einen vorzeigbaren Ehemann. Welchen Grund hätte Joy also, sich umzubringen, noch dazu öffentlich? Mit Genuss kratzt der Autor an der Fassade seiner Hauptfigur und der sie umgebenden Gesellschaft und bringt nach und nach gewaltige Risse und Hohlräume zum Vorschein.

Stilistisch bringt Jonathan Lee neben lebhaften Vergleichen und spritzigen Dialogen vor allem durch den dramaturgischen Aufbau jede Menge Drive in den Plot. Zum einen springt die Erzählung in kurzen Kapiteln vom Tag von Joys Sturz und der Gegenwart hin und her, was die Geschehnisse stets in einen neuen Kontext rückt. Die Gegenwart sehen wir aus Sicht eines Psychologen, bei dem nacheinander die verschiedenen KollegInnen sowie Joys Ehemann antanzen, um ihre Sicht der Dinge zu schildern und ihr „Seelenleben zu öffnen“. Doch statt in sich zu gehen, teilen sie lieber ordentlich aus. Der Ehemann wettert gegen Joys Geliebten, der Geliebte gegen einen Kollegen, die Sekretärin gegen „die da oben“, während der Personal Coach Samir von unschönen Seitensprüngen im firmeneigenen Fitnessstudio berichtet.

Rabenschwarzer, britischer Humor

Die schrulligen Figuren muss man einfach lieben, gerade wegen ihrer Brüche und Kanten. Da ist zum Beispiel die 73-jährige Sekretärin/Personal-Assistentin Barbara, die immer noch arbeiten muss, um sich ein Flugticket in die USA leisten zu können. Ihr Kommentar zu den alten, weißen Männern, die in der Anwaltskanzlei den Ton angeben: „Das Problem an alten Leuten ist: Alle Türen stehen ihnen offen, aber sie bemerken nur die Zugluft.“ (S. 223). Der arrogante Peter ist ständig bemüht, sich selbst positiv darzustellen. Während die Passagen von Joys Ehemann, einem Universitätsprofessor, mit besserwisserischen Fußnoten versehen sind.

Indem die Personen in der psychologischen Sprechstunde ständig mit dem Finger auf andere zeigen, stellen sie sich nur selbst bloß. Versteckter Rassismus, Sexismus, soziale Ungerechtigkeit – solche Themen bringt der Autor zur Sprache, ohne sich um Political Correctness zu scheren oder die eigentlichen Begrifflichkeiten zu erwähnen. Bereits die allererste Szene, in der Joy ihren Ehemann Dennis mit einer Prostituierten samt Dildo in unerwarteten Posen vorfindet, zeigt: Hinter der Hochglanzfassade der Londoner Upper Class muss man auf alles gefasst sein. Köstlich, kernig und eine Freude zu lesen! Von daher passt der Titel indirekt absolut perfekt.

Jonathan Lee: Joy.
Aus dem Englischen von Cornelia Holfeder-von der Tann.
Diogenes, Januar 2024.
384 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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