Das Buch „Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“ hat sich für mich langsam gelesen. Aber nicht, weil es nicht absolut spannend und wichtig wäre, sondern weil es eben kein Roman ist und mit Themen umgeht, denen ich in meinem Alltag selten begegne. Es geht vor allem um Politik und Wirtschaft. Aber nicht einer von Deutschland ausgehenden Politik und Wirtschaft, sondern einer, die sich vor allem in den und aus dem Globalen Süden entwickelt.
Die Autoren Johannes Plagemann und Henrik Maihack, Politikwissenschaftler, die selbst lange Zeit in Ländern des Globalen Südens verbracht haben, schaffen es selbst für unerfahrene Lesende einen Bogen zu spannen, der erklärt, wieso der Westen für den Globalen Süden an Wert verliert und andere Interessen Einfluss auf Länder z.B. in Afrika oder Asien nehmen.
Hauptstichwort an dieser Stelle ist die Kolonialisierung, die offiziell nicht mehr besteht, sich aber weiterhin maßgeblich auf Politik und Wirtschaft, auf Krieg und Frieden in den ehemals kolonisierten Regionen dieser Welt auswirkt und die in der kollektiven Erinnerung noch sehr präsent sind. „Deutschsprechende, weiße Männer kauften Sklaven, verübten Genozide, raubten Kunst und verbreiteten unheilbare Krankheiten im Globalen Süden.
Wir Europäerinnen und Europäer verkörpern diese Geschichte dort weiterhin. Sie prägt bis heute die Diskurse.“ Alle Entwicklungsarbeit – auch an sich ein schwieriges Thema – kann hier nicht genug sein, wirkt sie sich doch vor allem auf Strukturen aus, die besser von inländischen Vertreter:innen kontrolliert würden. Darüber hinaus investieren andere Nationen in wesentlich größere und sich als wichtiger erweisende Projekte wie Infrastruktur oder internationale Handelsbeziehungen, während der Westen sich sehr zurückhält und die Potentiale immer noch in den alten Größen sieht. Das Problem an dieser Denke manifestiert sich in der kontinuierlichen Diskriminierung von Ländern, die sich bisher nicht zu den „Großmächten“ zählen können.
Diese bieten dennoch Potential und wollen gesehen werden. Indien und China sehen hier ihre Chancen, mehr als der Westen, der sich immer noch mit dem Argument von (eigens verursachten) Korruptions- oder Gewaltproblematiken gegen verschiedene Nationen stellt und eine Zusammenarbeit unter diesen Bedingungen ablehnt. Dabei ist es, und das hat der jüngste Krieg zwischen der Ukraine und Russland gezeigt, nicht immer unumgänglich, auch mit politisch schwierigen Nationen Verträge abzuschließen (z.B. Katar, Saudi-Arabien).
Das Buch beschreibt anschaulich, wie viel besser eine multipolare Welt wäre, dass Mitspracherechte ausgebaut werden könnten und auch Interessen kleinerer Länder Gehör finden würden. Der Westen, so die Autoren, muss aufhören, sich als Weltmacht zu begreifen und die Verbrechen seiner Vergangenheit (siehe USA als größte Kriegsnation seit ihrer Entstehung) großflächig anerkennen sowie den Folgen davon entgegenzuwirken. Angst spielt hier eine große Rolle, Angst vor einer Machtabgabe, doch letztendlich, und das macht das Buch deutlich, wird die Welt eine fairere, friedlichere und sich weiter entwickelnde werden, wenn der Westen aufhört, sich an ignoranten Vorstellungen von Verteilungen und Macht festzuhalten.
Ich muss gestehen, als Wirtschaftsanfängerin habe ich nicht alle Erklärungen und Anspielungen des Buchs verstanden, doch bietet es dennoch viele Informationen und viele Google-Anlässe. Auch unerfahrene Lesende nehmen mit dieser Lektüre eine so große Kiste an Informationen mit, dass sich der Schatz erst nach und nach herauskristallisieren wird. Ein Verständnis für unsere Wirtschaft und Politik aus der anderen Perspektive wird vorgenommen und leistet einen riesengroßen Beitrag zu einer Verortung dieser komplizierten Zeiten und der eigenen Rolle im historischen, aktuellen und zukünftigen Weltgeschehen. Es wird uns außerdem die Angst genommen vor einem Machtverlust des Westens. Damit einher geht kein Verlust, sondern der Gewinn von Menschen, die ein Mitspracherecht haben. Ich kann das Buch nur weiterempfehlen, habe es kopfschüttelnd und ungläubig gelesen, aber auch zustimmend nickend. Es ist ein Buch, das mich sehr viel weiser gemacht hat.
Johannes Plagemann und Henrik Maihack: Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens
C. H. Beck, September 2023
249 Seiten,Taschenbuch, 18,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Luisa Aufderheide.