Was wäre, wenn …? Rund 150 Jahre vor Trumps alternativen Fakten hat der Meister der „alternativen Storylines“ das literarische Parkett betreten. Er liebt das Absurde, das Abgründige, die Varianten im scheinbar Bekannten. Er sprengt den Rahmen antiker Fabeln, entmystifiziert Mythen, macht nicht mal vor der Bibel halt. Joaquim Maria Machado de Assis dreht die Medaille herum und beleuchtet ihre Kehrseite. Was wäre, wenn der Teufel die Welt erschaffen hätte? War Noahs Arche dem Untergang geweiht? Hat die Seele ein Geschlecht?
Dreizehn ausgewählte Geschichten liefern Einblick in die schriftstellerische Bandbreite des Autors und sein herausragendes literarisches Wissen. Dazu gehören pseudohistorische Anekdoten, orientalische Märchen, Bibeltexte, Reiseberichte, politische Reden sowie Kurzgeschichten aus seiner Heimat Brasilien. Allein gemeinsam ist, dass Joaquim Maria Machado de Assis mit den Erwartungen der Leser spielt und uns eine zweite Ebene vor Augen führt, einen alternativen Verlauf der Handlung. Dabei steigt er sprachlich so gekonnt in das jeweilige Geschehen ein, dass die Grenzen zwischen Original und origineller Variation verschwimmen. Ein Vergnügen ist es allemal zu lesen. De Assis hat keinerlei Berührungsängste an historischen oder heiligen Schriften Hand anzulegen. Ein intertextueller, mutiger Quantensprung vom kritischen zum modernen Realismus. Heute gilt de Assis als Wegbereiter von Autoren wie Gabriel Garcia Marquez oder Jorge Luis Borges.
Das Paradoxe, Dunkle, Destruktive im Menschen ist ein beliebtes Thema des Autors. Ein scheinbarer Menschenfreund entpuppt sich als Sadist. Eine kameradschaftliche Verbundenheit zerbricht auf brutalste Weise am Ehebruch. Habgier lässt die Arche Noah über den Abgrund schaukeln. Das Geniale wird vom Banalen vereinnahmt, eine Idee zur politischen Floskel umfunktioniert. Spinnenvölker intrigieren, Gelehrte bekriegen sich aus Eitelkeit, ob in der Bibliothek von Alexandria oder in den Akademien von Siam. Ein selbsternannter Herrscher lässt sogar eine neue Sprache erfinden, um den Rivalen seiner Angebeteten, einen Poeten, im Dichterwettstreit zu übertrumpfen.
Der Hauptprotagonist des Abgründigen darf hierbei nicht fehlen: Der Teufel ist in den Geschichten reichlich vertreten. Mal verkündet er ein alternatives Evangelium. Mal findet der Machtkampf mit Gott im Paradies ein unerwartetes Ende. Mal will der Teufel eine eigene Kirche bauen, die allen anderen, sich gegenseitig bekriegenden Religionen überlegen ist, denn: „Es gibt viele Arten, etwas zu bejahen, aber nur eine, alles zu verneinen.“
Sprachlich und erzählerisch bringt de Assis nicht nur selbst Großartiges zu Papier. Seine Prosa ist gespickt mit Referenzen anderer großer Meister. Sokrates, Dante, Shakespeare, Schiller, Goethe, Poe und Swift, um nur ein paar Namen zu nennen. Umso erstaunlicher mutet das Geschriebene an, wenn man sich die Biografie des Autors vor Augen führt. Als Mulatte und Enkel eines freigelassenen Sklaven wächst de Assis in einem bildungsfernen Haushalt auf. Sein literarisches Wissen eignet er sich im Selbststudium an. Um 1858 beginnt er als Journalist und Autor. Zu einer Zeit, in der 84 Prozent aller Einwohner des Landes Analphabeten sind und die Sklaverei in Brasilien noch gar nicht abgeschafft worden ist. Darüber gibt ein interessantes Nachwort des Literaturwissenschaftlers Manfred Pfister Aufschluss.
Fazit: Ein fantastisches, aberwitziges Kaleidoskop an Geschichten, welche die Grenzen zwischen Schein und Sein, Realismus und Surrealismus, Gut und Böse genussvoll ausloten. Und uns auffordern, die Medaille einfach mal umzudrehen. Es könnte etwas Faszinierendes zum Vorschein kommen.
Joaquim Maria Machado de Assis: Das babylonische Wörterbuch.
Manesse, April 2018.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.