Irene Diwiak: Malvita

Krimi, Rachethriller, Familiendrama? Mitnichten. Diwiaks Roman ist wie ein beklemmender Irrgarten durch Dante Alighieris Inferno der Neuzeit. Ein Taumeln durch eine göttliche Komödie voller Wirrungen, Wendungen und Charaktere, die in ihren eigenen Obsessionen gefangen sind. Trotz der malerischen toskanischen Landschaft, die in der Hitze des Sommers geradezu flimmert, lauern die finsteren Vorboten überall. Da ist zum Beispiel der Ort des Settings, Malvita. Eine Mischung aus „Malavita – Unterwelt“ und „male vita“, ein Ort, in dem es sich schlecht leben lässt.

Beides ist mehr als zutreffend. Jahrhundertelang war Malvita, unweit von Florenz gelegen, ein wichtiger Produktionsort für Leder. Der Gestank der Gerbereien verpestete zwar die Luft, sicherte den Familien aber ein Einkommen. Nachdem die Lederfabrik die Wirtschaftskrise von 2007 nicht überlebt hatte, zogen die meisten Familien weg, die Stadt verfiel. Ein paar arbeiten seitdem in der verwinkelten, unheimlichen und trutzigen Villa der Unternehmerfamilie Esposito. Auch deren Namen verheißt nichts Gutes. Bedeutet er doch ursprünglich „Der Ausgestoßene“.

Über all dies macht sich Christina keine Gedanken, als sie zur Hochzeit ihrer bislang unbekannten Cousine Marietta nach Malvita reist. Nicht als Gast, sondern als Fotografin. Denn die eigentliche Fotografin ist kurz vor der Hochzeit verschwunden. Christinas Mutter hat den Deal eingefädelt, um ihre Tochter auf andere Gedanken zu bringen. Erst kürzlich hat Christina von der Affäre ihres Freundes mit ihrer besten Freundin erfahren. Sie leidet unter dem doppelten Vertrauensbruch.

Auf dem herrschaftlichen Anwesen erwartet Christina eine unbekannte Welt des Luxus und der geheimnisvollen Rituale. Tanta Ada stellt ihren Reichtum zur Schau, Tochter Marietta sieht aus wie eine Leinwandgöttin der 50er Jahre, ihre jüngere Schwester Elena arbeitet als Model. Doch von Anfang an fallen Christina Merkwürdigkeiten auf. Der Empfang ist seltsam frostig, alle Akteure wirken gekünstelt, wie ferngesteuert. Onkel Tonio glänzt durch Abwesenheit. Der jüngste Sohn Jordie wird mit seinen 19 Jahren behandelt wie ein Kleinkind, das den ganzen Tag nur mit seiner Katze Paola spielt. Die Bediensteten salutieren mit merkwürdigen Gesten, huschen wie Gespenster durchs Haus.

Nach und nach tun sich nicht nur Risse, sondern ganze Abgründe auf. Christina findet die Leiche der Hochzeitsfotografin, die gleichzeitig Trauzeugin und beste Freundin der Braut war. Marietta und ihr zukünftiger Bräutigam scheinen wiederum keinerlei Zuneigung füreinander zu empfinden. Selbstverstümmelung, Magerwahn, Rachefantasien, Sauberkeitsobsessionen, familieninterne Traumata und ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität sind nur einige der dunklen Geheimnisse, mit denen Christina konfrontiert wird. Denn eines haben alle Familienmitglieder gemeinsam: Hinter ihrer gestylten Fassade lauern finstere Dämonen.

Diwiak schildert meisterhaft eine beklemmende Atmosphäre, aus der es kein Entrinnen gibt. Christina versteht kein Italienisch, kann die Stimmungsschwankungen der Familie nicht deuten. Sie verirrt sich ständig in der alten, verwinkelten Villa. Ohne Auto, Geld und Kontakte ist es ihr nicht möglich, das abgelegene Anwesen eigenständig zu verlassen. Außerdem hat sie das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Das liest sich bereits spannend genug. Dazu kommen die surrealen Komponenten. Praktisch jeder Charakter hat eine Subebene, die mit bisherigen Lesegewohnheiten bricht. Manches davon scheint weit hergeholt, doch Diwiak schafft es, die Charaktere trotz ihrer Brüche stimmig zu halten. Inklusive falscher Fährten.

Offene Rechnung

Alle tonangebenden Frauenfiguren haben mit der Männerwelt eine offene Rechnung. MeToo lässt grüßen. Sowohl auf physischer, als auch auf psychischer Ebene. Beispiel: Elenas Modelalltag ist nicht mehr als Raubbau am eigenen Körper bis hin zum Verlust der Weiblichkeit.
„Mit Anfang zwanzig war Elena kaputtgegangen, wie eine Puppe, mit der man zu viel gespielt hatte: Ihr Haar war brüchig vom Haarspray, ihr Gesicht faltig, der Hunger fraß sich durch ihre Organe. Dass sie ihre Regel nicht mehr bekam, sah sie als Glücksfall an, eine potenzielle Peinlichkeit weniger.“ (S. 144)

Bitterböser Humor, überraschende Wendungen, charakterlich finstere Subebenen: Ein Buch, das sich nicht in Genres oder Schubladen stecken lässt. Der Roman der österreichischen Autorin ist trotz des flüssigen Schreibstils keine leichte Lektüre. Er polarisiert, führt Klischees ad absurdum, bricht mit Lesegewohnheiten und hinterlässt offene Fragen. Dazu eine starke Schlussszene. Motto: Homo homini lupus. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Oder eben eine kapriziöse Katze.

Irene Diwiak: Malvita.
Penguin, März 2023.
304 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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