Gegenstrom: So nennt sich eine alternative Studenten-WG, die Konsum ablehnt und auf Nachhaltigkeit setzt. Protagonistin Trixie hat das verfallene Bauernhaus ihrer Großtante geerbt. Statt es abreißen zu lassen, möchte sie es renovieren, da sie überzeugt ist, dass alte Gebäude eine Seele haben. Dieses waghalsige Vorhaben ruft sowohl bei Trixies Eltern, als auch bei diversen Handwerken Kopfschütteln hervor. Gemeinsam mit ihren vier Freunden will es Trixie der Wegwerfgesellschaft zeigen! Doch der Fund von mysteriösen Goldtalern und den Gebeinen eines Toten setzt der Landhausidylle ein Ende. Und was ist von Herrn Gläser zu halten, dem unheimlichen Nachbarn, der irgendwie in die Sache verwickelt ist?
Trixies Mitbewohner sind zum einen ihr fester Freund Henry, größter Verfechter der Konsumkritik, wortreicher Ideologieführer und Halbschotte. Hinzu kommen der gutaussende Frauenschwarm und Musiker Oliver, Trixies beste Freundin Saskia sowie die fleißige Martina, eine Pfarrerstochter mit Hang zur Esoterik. Bei dieser charakterlichen Gemengelage scheinen Konflikte vorprogrammiert. Aber zunächst stürzen sich alle gemeinsam in die Renovierungsarbeiten, schmieden Pläne und versuchen den entrümpelten Trödel auf Flohmärkten zu verkaufen. Ganz ohne Geld geht es nicht. Die Fenster sind undicht, es gibt keine Zentralheizung und nur ein Badezimmer. Daneben soll ein Gemüsegarten zur autarken Selbstversorgung entstehen.
Als Trixie und Saskia einen Beutel voller Goldtaler finden, die der grantige Nachbar Herr Gläser für sich beansprucht, gerät die Landhausidylle ins Wanken. Wer hat ein Anrecht darauf? Soll es für die Gemeinschaft und somit zum Ausbau des Hauses verwendet werden? Oder darf es zur Erfüllung von Lebensträumen wie einer Weltreise dienen? Schnell wird klar: Konsumverzicht ist leicht, solange kein Geld da ist. Bei unerwartetem Geldsegen sieht die Sache anders aus…
Plötzlich wird gelogen, gestohlen, taktiert. Zudem brechen Konflikte ans Tageslicht, die lange im Verborgenen gebrodelt haben. Sozial- und Sexualneid etwa. Vor allem „Hausherrin“ Trixie zieht als wohlhabendes Einzelkind und Freundin des charismatischen Henry unterschwellig Missgunst auf sich. Als auf dem Grundstück noch ein Skelett gefunden wird, spitzt sich die Situation zu. Am Ende folgt die Erkenntnis: Konsumverzicht kann ganz schön kostspielig sein!
Der Roman ist kein typischer Ingrid Noll-Krimi. Das einzig wirkliche Verbrechen liegt weit in der Vergangenheit, alle weiteren (Fast-) Todesfälle sind eher unglücklichen Umständen zu verdanken. Den wahren Tod stirbt eine Weltanschauung. Dies haben schon Generationen zuvor erlebt, wie Hippies oder Punks. Nun erwischt es die „Anti-Konsum-WG“. Sie wird zu Grabe getragen durch die menschlichen Schwächen der Akteure.
Statt eines Krimis serviert uns Ingrid Noll mit diesem Roman eine Mischung aus modernem Märchen und Gesellschaftsparabel im Stil von Juli Zehs Roman „Unterleuten“. Da ist der unheimliche Nachbar, an dessen „Lebkuchenhäuschen“ sich die unartigen Kinder hemmungslos bedienen. Anstelle von Naschwerk lockt hier pures Gold. Eine Kellerszene trägt Grundzüge des Zusammentreffens von Hänsel, Gretel und der Hexe. Zum anderen ist da der Mikrokosmos des Landlebens, der eine Fokussierung auf die wesentlichen Themen zulässt. Waren es in Juli Zehs Roman „Unterleuten“ noch Windräder, so ist es diesmal das wertvolle Edelmetall, welches die Gemeinschaft spaltet – in jene, die an ihren Idealen wie Umweltschutz festhalten und in jene, die der Verlockung von schneller Bedürfnisbefriedigung erliegen.
Regiert Geld die Welt? Muss jede Ideologie einmal scheitern? Ist es gerade die Fülle an unbegrenzten Möglichkeiten, welche die kommenden Generationen zu Egomanen macht? Ingrid Noll lässt diese Fragen offen und skizziert das Geschehen als allwissende Erzählerin aus der Distanz. Dies verleitet uns Leser zu der Frage: Wie würde ich mich verhalten, wenn die goldene Büchse der Pandora vor meiner Haustür aufleuchtet?
Fazit: Kein klassischer Ingrid Noll-Krimi, sondern eine Mischung aus modernem Märchen und Gesellschaftsparabel. Spannung wird hier durch Charakterentwicklung erzielt. Klug geschrieben und mit nachdenklichen, ironischen Untertönen versehen.
Ingrid Noll: Goldschatz.
Diogenes, Februar 2019.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.