Wenn große Historiker am Ende eines erfolgreichen Forscherlebens an der Universität emeritiert werden, dann haben nicht wenige von ihnen etwas, das sie verbindet: Sie legen – quasi als Vermächtnis – mindestens eine große Überblicksdarstellung vor und ziehen damit auch Bilanz ihres Forscherlebens. Ian Kershaw, der große britische Historiker und Hitler-Biograf, 2002 von der Königin zum Ritter geschlagen, Träger des Bundesverdienstkreuzes, der Karlsmedaille der europäischen Medien und Empfänger zahlreicher weiterer Ehrungen, hat dies nun mit seinem zweiten, abschließenden Band zur europäischen Zeitgeschichte getan: „Achterbahn. Europa 1950 bis heute.“
1989 wurde ich zum ersten Mal auf diesen Autor aufmerksam. Mit „Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick“ war ein Jahr zuvor ein stattliches Paperback erschienen (im englischen Original bereits 1985), in dem Kershaw sachlich und doch klar pointiert einen Forschungsbericht vorlegte, der für Studenten der Geschichtswissenschaften Pflichtlektüre war, aber auch für den Laien verstehend konsumierbar erschien. Schon hier zeigte sich eine stilistische Souveränität, die man bei britischen Historikern immer wieder, bei deutschen dagegen eher selten vorfindet.
Kershaw hatte es zu einiger Bekanntheit gebracht durch eine Monografie, die – anders als die meisten Werke, die sich mit historischen Personen befassen – durch einen interessanten Perspektivwechsel auffiel. In „Der Hitler-Mythos“ (1980) legte er eben nicht die x-te Biografie über den Diktator vor, sondern er stellte eine viel spannendere Frage, nämlich die, weshalb so viele Menschen ihm vom Anfang bis zum Ende die Treue hielten. Anhand bislang weitgehend unbeachteter Quellen warf er einen Blick auf die deutsche Bevölkerung und untersuchte das, was den „Führer“ mythisch so auflud. Kershaw verfasst seine Texte zwar in Englisch, beherrscht aber die deutsche Sprache souverän, so dass er auf keine Probleme bei der Quellenarbeit stieß.
Etwas erstaunt war ich dann doch, als er 1998 seine zweibändige Hitler-Biografie mit einem Umfang von über 2000 Seiten vorlegte und damit scheinbar herkömmliches Historiker-Terrain betrat. Eine weitere Biografie, die wievielte mittlerweile – erschien das sinnvoll? Das war es. Denn Kershaws Werk wurde zu einem Meilenstein, der die bisherigen Hitler-Biografien weit zurückließ. Bis heute ist sie Maßstab der Forschung und gilt als Kershaws Opus Magnum. Kershaw war wissenschaftlicher Berater mehrerer herausragender TV-Dokumentationen, ein gern gesehener Gast auf Symposien und weithin anerkannter Kenner der europäischen, vor allem aber der deutschen Zeitgeschichte.
Im Vorwort des ersten Bandes seiner europäischen Geschichte („Höllensturz. Europa 1914 bis 1949“, erschienen 2016) entschuldigt er sich fast bei seinen Lesern. Anders als bei seinen bisherigen Werken begebe er sich hier auf für ihn neues Gebiet, hier kenne er nicht all die wesentlichen Quellen aus erster Hand, sondern sei auf die Ergebnisse zahlreicher Experten angewiesen, deren Expertisen er zu einer Gesamtdarstellung zusammenfügen wolle. Britische Bescheidenheit. Kershaws Abriss auf gut 700 Seiten steht heute bei allen Lesern, die sich ernsthaft für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts interessieren, im Regal. Und nicht nur die Fachwelt reagierte begeistert, auch Literatur-Rezensenten lobten die stilistische Kraft des Briten und seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in größerem Rahmen darzustellen, ohne zu simplifizieren. „Höllensturz“ war das Werk eines reifen, in jeder Hinsicht souveränen Fachmanns. Und nun – nur knapp drei Jahre später – liegt der zweite, abschließende Teil mit einem Umfang von über 800 Seiten vor.
Und wieder entschuldigt er sich. Das Schreiben dieses Buches sei für ihn noch viel schwieriger gewesen. Die Materie sei ihm noch viel weniger vertraut als beim ersten Band, vor allem aber handele es sich bei der Geschichte von 1950 bis heute nicht um eine klare, lineare Entwicklung, sondern um ein ständiges Auf und Ab, weshalb er auch diesen Titel – „Achterbahn“ (im Original: Rollercoaster) – als passend empfinde. Die Komplexität der Geschichte Europas dieser Zeit sei ein wirkliches Problem, zumal er nie über diese Zeit selbst geforscht habe; in besonderem Maße sei er also auf die Arbeiten anderer angewiesen. Auch sei es für einen Historiker nicht leicht, über selbst erlebte Epochen zu schreiben, denn immer seien damit eigene Erinnerungen und Wahrnehmungen verwoben. So verlasse er also bekanntes Gelände.
Mag sein, dass seine Geschichte Europas weitgehend auf Studien und Darstellungen anderer Forscher fußt, seine Basis ist aber verdammt breit, wie die „Auswahl“-Bibliografie nahelegt. Und auch hier zeigt er sich als souveräner Darsteller. Wohlgemerkt, seine Achterbahnfahrt der letzten fast siebzig Jahre ist keine große Analyse. Hier werden nicht in sozialwissenschaftlicher Manier Modelle entworfen, hier wird nicht nach Mustern gesucht. Kershaw bleibt Historiograph, seine Stärke ist die Darstellung. Und so werden auch immer wieder große Skalen deutlich, die bei Einzelbetrachtungen oftmals zu kurz kommen. Er ist auch immer wieder bemüht, und das scheint manchmal schwieriger zu sein als bei der Darstellung der ersten fünfzig Jahre des 20. Jahrhunderts, zwischen den einzelnen Nationen hin- und herzuswitchen, da er sich eben seiner europäischen Perspektive verpflichtet fühlt.
Eine ganz herausragende Rolle in den vergangenen 30 Jahren schreibt er dem „Faktor Gorbatschow“ zu. Mit seinem Amtsantritt habe sich das Gesicht Europas grundlegend geändert. Im Westen geradezu als Erlöser gefeiert, von dem man sich endlich mehr Vernunft und schließlich ein Ende des Kalten Krieges erhoffte, sorgte er – ob gewollt oder nicht – für ein Ende der Sowjetunion und gilt in seiner Heimat eher als der große Verlierer, manchmal gar als Verräter. Mit den Revolutionen im Osten Europas – in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in Rumänien und natürlich dem Baltikum -, mit dem Zusammenbruch der DDR und der deutschen Wiedervereinigung endete nicht nur die Nachkriegsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg; Europa wurde zu einem anderen Kontinent mit einer veränderten politischen Struktur, neuen Grenzen und Nationen. Was um 1990 herum als Fortschritt, ja von einigen gar als das „Ende der Geschichte“ begrüßt wurde, sollte sich bald als Medaille mit zwei Seiten erweisen – mit dem gewaltsamen Konflikt in Ex-Jugoslawien, jenem Produkt des Versailler Vertrags nach dem Ersten Weltkrieg, in dem nun nationalistische Bedürfnisse und höchste Frustration aufgrund jahrelanger sozialistischer Misswirtschaft Bahn brachen. Und so zerbrach das Happy End für Europa.
Kershaws Darstellung geht bis hinein in die aktuelle Politik. In einem, zum Teil durchaus düsteren, Ausblick setzt er sich mit gegenwärtigen Problemen auseinander und versucht diese historisch einzuordnen und zu bestimmen: das aggressive Vorgehen Putins auf der Krim, die Präsidentschaft Donald Trumps, die Situation der EU, der Aufstieg nationalistisch-fremdenfeindlicher und regional-separatistischer Parteien. Von besonderem Interesse für die deutschen Leser wirkt auch der durchaus kritische Blick auf Großbritannien, vor allem England, das laut Kershaw immer schon mit einem hoch distanzierten Blick auf Europa und die Idee einer europäischen Einigung schaute. Und so begegnet uns der Brexit auch weniger aus einem Nichts heraus kommend, sondern durchaus als etwas, das Wuzeln hat in der britischen Geschichte. Der Brite Kershaw selbst steht dem Geschehen auf der Insel höchst kritisch gegenüber. Boris Johnson erscheint ihm gar als „Schnösel“, bar jeder politischen Qualifikation.
Sein Schluss – wie sollte es anders sein? – lautet: „Die einzige Gewissheit ist Ungewissheit.“ Nach knapp 800 Seiten Textkorpus lehnt man sich als Leser zurück in dem Bewusstsein, die Gegenwart besser zu verstehen, alles viel klarer einordnen zu können. Trotzdem bleibt die Unsicherheit beim Blick in die Zukunft. Denn das liegt in der Natur der Sache: Historiker, auch die größten ihrer Zunft, ordnen uns den Rückblick, lassen uns die Welt besser erkennen, aber ihr Blick bleibt beschränkt.
Jedoch: Nimmt man beide Bände zusammen und betrachtet die Geschichte Europas in den vergangenen hundert Jahren, so verspüren wir einen großen Lernzuwachs. Vor allem die Geschichte um die Entstehung des Ersten Weltkriegs lehrt uns, dass Säbelrasseln als Politik der Stärke und ein egoistisch-isolationistisches Starren auf eigene Positionen in Verbindung mit der Unfähigkeit, den anderen zu verstehen, einen hohen Preis fordern. Sie lehrt uns, dass Kommunikation, Diplomatie, politische Partizipation und Demokratie Werte sind, für die es sich einzutreten lohnt.
Am Ende bleibt die Hoffnung, dass die Gesamtdarstellung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht das letzte Werk war, das der außergewöhnliche Historiker uns schenkte.
Ian Kershaw: Achterbahn: Europa 1950 bis heute.
DVA, März 2019.
832 Seiten, Gebundene Ausgabe, 38,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.