Philipp Schwenke: Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste. Ein Karl-May-Roman.

Was haben Instagram und Karl May miteinander gemein? „Karl May war ein wahnsinnger Narzisst“, erklärte Philipp Schwenke einmal in einem Interview. Genau wie heute bei Instagram ging es bei May immer wieder um Selbstinszenierung, geboren aus dem Bedürfnis, geliebt zu werden. Alles klar? Nicht? Dann einmal von Anfang an!

In den Jahren 1899/ 1900 unternahm Karl May, mittlerweile nicht mehr ganz jung und bekannter Autor zahlreicher „Reiseberichte“, die ihn nicht nur berühmt, sondern auch sehr wohlhabend gemacht hatten, eine Reise in und durch den Orient. Zweck dieser Reise war vor allem die Erbringung von Beweisen, dass May diese Gegenden tatsächlich in der Vergangenheit bereist hatte und dies in Abständen immer wieder zu tun pflegte. Die Wahrheit indes war eine andere. Mays „Reiseberichte“ waren Fiktionen mit überaus gut recherchierten Details, erfundene Abenteuer – und May selbst hatte für sich sein Erzähler-Ich erfunden: im Wilden Westen Nordamerikas Old Shatterhand, in seinen Orientromanen und -erzählungen Kara Ben Nemsi. Dieses Erzähler-Ich war ein hochpotenzierter Superheld, der alles konnte – von Kenntnissen der Medizin, der Beherrschung großartiger Kampf- und Schießkünste bis hin zu beeindruckenden Sprachkenntnissen: locker über 1200 Sprachen, daneben noch diverse Dialekte und so weiter, und so weiter. Das Problem war, dass May eine tatsächliche Identität mit seinem Erzähler-Ich behauptete („Ich bin Old Shatterhand“) und von dieser Legende auch nicht Abstand nahm, als in der unbarmherzigen Öffentlichkeit des deutschen Kaiserreichs Zweifel aufkamen. Schlimmer noch, ein findiger Journalist meinte entdeckt zu haben, dass May in seinen jungen Jahren eben nicht in diesen wunderbaren Ländern, sondern in heimischen Gefängnissen verbracht haben sollte.

Karl May – in der Realität ein großer Fantast und Geschichtenerzähler, im realen Leben aber ein in mehrfacher Hinsicht kleiner Mann – trat die Flucht nach vorne an. Mittlerweile über materielle Mittel verfügend, strebte er an, den Orient zu bereisen, um seine Täuschungsmanöver zu perfektionieren. Seine teure und aufwendige Reise hatte in erster Linie nur einen Zweck: Mit Hilfe zahlreicher vor Ort verfasster und daher authentischer Postkarten wollte er die Echtheit seiner Reisetätigkeiten beweisen. Niemand mehr sollte Zweifel daran haben, dass er – Karl May alias Kara Ben Nemsi – wieder einmal auf Abenteuer war.

Die Realität war eine andere: Mit dem Baedecker in der Hand folgte May eher touristischen Pfaden und logierte in edlen Hotels. Nix war es mit dem Helden, der auf dem Pferd die Wüste durchritt. Die Fotografien aus dieser Zeit haben denn auch oftmals etwas unfreiwillig Komisches.

Grund genug für Philipp Schwenke, einen Roman daraus zu formen. Mit „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ legt der vierzigjährige Journalist, der bislang für das Magazin „Neon“ und für „Capital“ tätig war, seinen Debütroman vor – mit 600 Seiten durchaus in May’schem Umfang. Sein Thema ist eben jene Orientreise um die Jahrhundertwende, die May mit seiner Frau Emma und dem befreundeten Ehepaar Richard und Klara Plöhn unternahm. May-Kenner wissen, dass diese Reise ein markantes Unhappy-End fand: Am Ende steht die schwierige Trennung des Schriftstellers von seiner Frau und die neue Ehe mit Klara nach dem Tod ihres Ehemanns Richard. Vor allem aber erleidet Karl May einen schlimmen Schock, als er entdeckt, dass die Welt, die er unter anderem als wunderbar und magisch beschrieben hatte, seinen Vorstellungen nicht entsprach. Neben der Enttäuschung, die er durch Land und Leute erfuhr, wurde ihm die Diskrepanz zwischen seinem Alter Ego und seiner eigenen Kleinheit vor Augen geführt. Der May, der aus dem Orient zurückkehrte, sollte ein anderer sein. Von nun an wollte er seine Geschichten symbolisch verstanden wissen, seine neuen Texte entzogen sich einem einfachen Verständnis, die Leserschaft wandte sich ab.

Vor allem aber holte ihn die Realität in der Heimat ein: Hier musste er in Prozessen seine Ehre und seine Existenz verteidigen. Es half nicht viel: Er galt als Lügner, Betrüger, Krimineller. Vor allem aber nahmen ihm seine Leser übel, dass er sie getäuscht hatte.

Eine erzählenswerte Geschichte ist das, kein Zweifel. Die spannende Frage, wie sich der Debütant geschlagen hat, lässt sich nach der Lektüre beantworten: gut. Er bewältigt den Stoff, zeigt sich dabei auch als jemand, der sich auskennt in der Materie, der seine Hausaufgaben gemacht hat – und da gibt es durchaus viele, denn zu keinem deutschen Schriftsteller gibt es so zahlreiche Forschungen und Details, die mittlerweile – nicht nur durch die Karl-May-Gesellschaft – zutage gefördert worden ist. Schwenke kennt sich aus. Und – bei aller Verlockung, der er manchmal auch nicht widerstehen kann – er nimmt seinen Protagonisten ernst, jenen oftmals komischen Mann, der sich an seine erfundene Identität klammern möchte, der alles verliert und als traurig-komische Figur endet. Nur selten überkommt den Leser das Gefühl von Slapstick, dafür vermag er sich einzufühlen in die Darstellung komplexer Charaktere. Hierbei fällt auf, dass Schwenke der seltsamen Dreiecksbeziehung – Karl, Emma und Klara – einen großen Raum gibt, manchmal einen sehr großen. Dennoch – und das ist bei einem Roman über den Schriftsteller, der für Generationen als Spannungsautor galt, ein Muss – kommt nie Langeweile auf. Schwenke erzählt die Geschichte mit einem kräftig anhaltenden Atem – und das über 600 Seiten.

Und was hat das nun alles mit Instagram zu tun? Es geht um die gescheiterte Selbstinszenierung eines Narzissten. Bei seinen Postkarten erkennen wir allzu schnell den Bezug zur heutigen Welt der Selbstdarstellung, für die Instagram nur eines von möglichen Symbolen ist. Hier werden doch allzu oft Erfolge vorgegaukelt und Wunschexistenzen inszeniert. Und jeder, der nicht allzu blind durch die mediale Welt taumelt, weiß um deren Realitätsgehalt. Und doch – derjenige, der ausbricht aus dieser Scheinwelt, erntet nicht selten einen unsäglichen und entwürdigenden Shitstorm. Die Parallelen sind da, und so flimmert eben nicht nur Wahrheit über der Geschichte von Mays Orientreise, sondern auch einiges an Traurigkeit.

Philipp Schwenke: Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste: Ein Karl-May-Roman.
Kiepenheuer&Witsch, September 2018.
608 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.

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