Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band

Emotional, poetisch, kraftvoll. Die in Berlin und Beirut lebende Autorin Haneen Al-Sayegh gewährt Einblicke in das Leben von Frauen der drusischen Glaubensgemeinschaft, die in den Bergen des Libanon nach strengen patriarchalischen Regeln leben. Ihre Hauptfigur Amal ist ein Leben lang zerrissen zwischen der Liebe zur Familie und ihrem Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. In lyrischen Bildern wandern wir durch Amals Gedankenwelt und eine Welt, die jenseits der öffentlichen Wahrnehmung nach eigenen, geheimnisvollen Riten lebt. Gleichzeitig wird sich Amal der Stärke des „unsichtbaren Bandes“ bewusst, dass die Frauen unterschiedlichster Religionen im Libanon eint, im Positiven wie im Negativen. Dazu gehören sowohl Aufopferung und Liebe, als auch Schweigen und ererbtes Leiden. Ein faszinierender Einblick in eine Welt, die wirkt, wie aus der Zeit gefallen.

Die geheime Welt der Drusen

Die Drusen bilden eine religiöse Minderheit, die in den Bergen des Libanon in kleinen Dörfern lebt. Abgespalten vom Islam folgen sie den Lehren eigener Heiliger und glauben an die Reinkarnation. Drusen können nur als Drusen wiedergeboren werden, weshalb Eheschließungen mit anderen Religionen strengstens verboten sind. Die Scheichs haben im Dorf das Sagen, eine Gruppe religiös gebildeter Männer. In so einem Dorf wächst Amal als jüngste von vier Schwestern auf – geboren mit der Last, nicht der ersehnte Sohn des Vaters geworden zu sein. Der Großvater baute eine Mauer quer durch sein Haus, da eine Scheidung von seiner Frau als gläubiger Druse nicht infrage kam. Später von Reue gekennzeichnet, verständigten sich die beiden über Klopfsignale an der Wand. Amals Mutter darf immerhin Brot backen und verdient so ihr eigenes Geld, das sie in die Ausbildung der Töchter investiert. Insbesondere Amal erweist sich als gelehriger, heller Kopf. Die Mutter liebt ihre Töchter, aber schweigt dennoch, wenn der Vater sie schlägt.

Ererbtes Schweigen unter Frauen

Auch Amal erbt dieses Schweigen. Als sie mit 15 Jahren verheiratet werden soll, steckt sie in einem Dilemma. Der Vater wird ihr nie erlauben, als unverheiratete Frau das drusische Bergdorf zu verlassen, um in der Hauptstadt Beirut zu studieren. So heiratet Amal den 25-jährigen erfolgreichen Geschäftsmann Salem, der ihr verspricht, die Schule beenden zu dürfen. Doch der Ehe ist kein Glück beschert. Salman nimmt sich ihren Körper, wann er will und ist enttäuscht darüber, dass Amal nicht schwanger wird. Daraufhin zwingt er sie zu künstlichen Befruchtungen, die Amal regelrecht traumatisieren. Später wird ihre Tochter Rahma geboren wird und Amal muss sich ihren Weg zu Bildung, Unabhängigkeit, Aufstieg und wahrer Liebe hart erarbeiten – mit Schuldgefühlen und Depressionen als ständige Begleiter. Denn trotz zunehmendem Erfolg leidet Amal an einem negativen Selbstbild bis hin zu Selbsthass.

Da ist Amals zwiespältiges Verhältnis zum Glauben, der in der Kindheit angelegt wird und das Fundament des Wesens bilde. „Wenn wir erwachsen werden und anfangen, kritisch zu denken, erkennen wir, dass wir diese ersten Schichten nicht abreißen können, da wir schon Dutzende von anderen darauf aufgebaut haben. Daher bleiben diese Fundamente ein wesentlicher Bestandteil unserer emotionalen Verfassung.“ (S. 227) So schafft es selbst Amals rebellische ältere Schwester Nermin in Amerika trotz ihrer modernen Lebensweise nicht, sich von den Wurzeln ihres Glaubens zu lösen. Mit verheerenden Folgen.

Roman mit lyrischen Anklängen

Haneen Al-Sayeghs Prosa wirkt nie anklagend, sondern versöhnlich. Denn vor allem die Liebe unter Frauen (Mütter, Töchtern, Schwestern), aber auch die Liebe zu aufgeschlossenen Männern, bringt die Protagonistinnen im Roman dazu, vieles auf sich zu nehmen und sich für die Verbesserung ihrer Umstände einzusetzen. Diese verläuft manchmal radikal, manchmal nur in kleinen Schritten. Da„die Kombination aus patriarchalischer Macht, Tradition, Religion und dem hergebrachten Wirtschaftssystem die Befreiung der Frauen – ohne dass sie psychologisch, sozial oder materiell Schaden nehmen – nahezu unmöglich macht.“ (S. 203).

Trotz der ernsten Thematik, schafft es die Autorin, Lyrisch-Erhebendes in ihren Plot einzubauen. Kein Wunder: Sie hat bereits drei Gedichtbände verfasst und wurde mit dem Naji Noaman Literary Award ausgezeichnet. Dieser Roman eröffnet eine faszinierende Perspektive in die abgeschottete Welt der Drusen und die Herausforderungen von Frauen in der arabischen Welt. Zumal auch in der westlichen, vermeintlich aufgeklärten Welt, noch viele Herausforderungen zu bewältigen sind.

Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band.
Aus dem Arabischen übersetzt von Hamed Abdel-Samad.
dtv, März 2024.
336 Seiten, gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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