Es ist die wohl lustigste Defloration der Literaturgeschichte: Wie der 19-jährige Gestur zu Beginn des 20. Jahrhunderts während der uralten Sitte des „Trockenlegens“ seine Unschuld verliert, ist eines der witzigsten Highlights in diesem 670 Seiten starken Roman! Überhaupt ist der Titelheld aus „60 Kilo Sonnenschein“, dem ersten Band von Helgasons historischer Islandromanreihe, erwachsen geworden. Zumindest auf körperlicher Ebene. Er hat einen regelrechten Lauf bei Frauen, wenngleich nicht jede Liebschaft ein glückliches Ende nimmt.
Islands skurrile Zeitenwende
Wieder einmal schafft es der isländische Autor, die seltsamen Charakterzüge seiner Landsleute herauszuarbeiten, ohne dabei seinen humanistischen Grundtenor zu verlieren. Wenn ein Land die Bezeichnung „Zeitenwende“ verdient hat, dann ist es Island. Als nordwestlichstes Land Europas, in baumloser und eiskalter Umgebung jahrhundertelang in Erdhügeln lebend, von der Weltpolitik nahezu unberührt, allem Neuen und Fremden stets misstrauend, stellt die Umstellung vom gestampften Erdboden auf Holzdielen einen Riesenschritt dar. Von Helgason meisterlich beschrieben wie folgt: „Ein Volk, das seit der Landnahmezeit Ende des neunten Jahrhunderts in immer denselben Bedingungen gelebt hatte, begann etwas Neues: wechselte von einer Kultur in eine andere, verließ Eiszeit, Steinzeit und Bronzezeit, umging die Aufklärung, übersprang die industrielle Revolution und trat gleich in die elektrifizierte Jetztzeit ein mit all ihren Petroleumlampen und Kochherden. Es stieg vom Donnerbalken gleich in donnernde Düsenflugzeuge.“ (S. 476)
Daraus erschließen sich Szenen, bei denen Ihnen Tränen in die Augen steigen werden. Vor Lachen versteht sich. So verursacht die Installation des ersten Telefons im Fjord einen Massenauflauf.
Zurück zu Gestur: Der muss in jeglicher Beziehung seinen Mann stehen. Nicht nur um seine Pflegefamilie, die ihn einst aufgenommen hatte, durchzufüttern. Denn rund um den einäugigen Olgeir, den verkannten Literaten Lási, die bettlägerige Grandvör und die geistig zurückgebliebene Snjólka sind im Alltag einige Herausforderungen zu bewältigen. Damit nicht genug. Ständig wollen ihm zum Teil wildfremde Damen an die Wäsche! Gestur, der sein Glück noch gar nicht fassen kann, wird sogar zum Geliebten der schönsten Frau des Ortes, sieht einer ungeplanten Vaterschaft entgegen, findet aber seine große Liebe in einer verhängnisvollen Begegnung aus seiner Vergangenheit.
Liebe in Zeiten des Frostes
In dem nordischen Fjord, in dem man dank Eiseskälte nur etwa eine Woche pro Jahr ohne Pullover das Haus verlassen kann, geht es zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerst freizügig zu. Mit den einfallenden Heringsflotten der Norweger gibt es plötzlich an jeder Ecke Bordelle, wilde Saufgelage und völlig aus dem Ruder gelaufene Massenschlägereien zu beobachten.
Wenngleich die damaligen sexuellen Begegnungen an heutigen, hygienischen Standards gemessen, wenig erotisierend wirken. Da stehen die Arbeiter und Arbeiterinnen der Heringsfabriken den lieben langen Tag im Fischschleim herum, baden aber nur zwei Mal im Jahr und tragen immer dieselben Klamotten! Von der ausländischen Oberschicht eingeführte Nachthemden sorgen für größtes Erstaunen bei den Isländern. „Derartige Kleidungsstücke allein für die Nacht waren völlig unbekannt in einem Land, in dem die meisten Menschen keine Wechselwäsche besaßen und daher nackt und heugefüllten Bettdecken auf Grassodenmatrazen schliefen, damit sie ihre einzigen Kleidungsstücke im Schlaf nicht verschlissen. An den Waschtagen blieben die Männer im Bett, während die Magd die Sachen wusch, und oft mussten sie zwei Tage liegen bleiben, weil feuchtes Wetter die Wäsche nur langsam trocknen ließ.“ (S.40)
Wer noch kein Islandfan ist, wird es spätestens nach der Lektüre dieses Buches werden. Denn die Eigenheiten der Isländer sind einfach durch und durch liebenswert. Allein wie sich Gestur von Spekulanten über den Tisch ziehen lässt, in Liebesdingen selbst im Wege steht und zudem noch gegen seinen äußerst abergläubischen Pflegevater ankämpfen muss, ist einfach rundum köstlich zu lesen. Dennoch spart Helgason die harte Realität nicht aus. Die Kindersterblichkeit ist aufgrund von Hunger, Epidemien und der Kälte außergewöhnlich hoch. Vergewaltigungen und Frauenmord sind zu jener Zeit noch regelrechte Kavaliersdelikte.
Isländischer Literaturpreis für Hallgrímur Helgason
Vor der Lektüre dieses großartigen Romans empfiehlt es sich, den Erstling der Reihe „60 Kilo Sonnenschein“ von Hallgrímur Helgason zu lesen. Andernfalls könnte sich der Einstieg in die Lektüre aufgrund der Vielzahl der Personen etwas schwierig gestalten. Das Glossar am Ende des Buches zu den wichtigsten Personen- und Ortsnamen ist ebenso hilfreich, um Handlungen richtig zu verorten. Auch das Ende des Buches weist auf eine mögliche Fortsetzung des Autors hin. Sicherlich gibt es auch nach 1918, dem Ende des 1. Weltkrieges, einiges zu erzählen von der sonderbaren Insel auf Ihrem Weg in die Moderne.
PS: Sowohl „60 Kilo Sonnenschein“ als auch „60 Kilo Kinnhaken“ wurden mit dem isländischen Buchpreis als bester Roman des Jahres ausgezeichnet. Noch Fragen?
Hallgrímur Helgason: 60 Kilo Kinnhaken.
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Tropen, September 2023.
672 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.