Die US-amerikanische Schriftstellerin Grace Paley wurde 1922 geboren. Ihre Eltern waren russisch-jüdische Einwanderer. Sie lebte in New York City, schrieb Kurzgeschichten und Gedichte und starb 2007 in Vermont. Grace Paley engagierte sich aktiv für Frauen- und Bürgerrechte und die Friedensbewegung. „Die kleinen Widrigkeiten des Lebens“ erschienen 1959 unter dem Originaltitel „The Little Disturbances of Man“ und 1994 erstmals auf Deutsch bei Schöffling. Im April 2018 legte btb die Taschenbuchausgabe des Klassikers in einer Übersetzung von Sigrid Ruschmeier vor.
Darin zehn Storys der Autorin, die so modern und pfiffig daher kommen, dass sie auch noch fast sechzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung unbedingt lesenswert sind.
Tante Rose erklärt ihrer Nichte Lillie in „Auf Wiedersehen und viel Glück“, warum sie keine bedauernswerte, alte, alleinstehende Frau ist, sondern ein selbstbestimmtes, spannendes Leben geführt hat und am Ende nicht mehr nur Geliebte sondern Ehefrau des bekannten Schauspielers Volodya Vlashkin wird.
Anna und ihr Ex-Mann Peter lieben sich in Annas neuer Wohnung auf dem Bett ihrer gemeinsamen Tochter Judy. Und er verlässt sie fröhlich Räder schlagend, nachdem Anna ihm gesagt hat, dass sie es „aus Liebe gemacht“ hat, obwohl sie einen Ehemann hat.
Shirley Abramowitz hat eine laute Stimme und soll bei der Schul-Weihnachtsfeier eine Rolle übernehmen. Das gefällt ihrer jüdischen Mutter Clara nicht. Doch ihr Vater Misha hat die passende Antwort darauf:
„Du bist in Amerika! Clara, du wolltest doch hierherkommen. In Palästina würden dich die Araber bei lebendigem Leib fressen. In Europa, da gab’s Pogrome. In Argentinien wimmelt es von Indianern. Hier hast du Weihnachten…Treppenwitz der Geschichte, was?“ (S. 63)
Virginia bekommt einen Besen und ein Kehrblech geschenkt, bevor ihr Mann sie mit den Kindern sitzen lässt, um zur Armee zu gehen. Und obwohl sich der Sohn der Nachbarin, John, sehr um sie bemüht, träumt sie davon, ihren Mann zurückzunehmen, wenn er denn zurück käme.
Faith mit ihren zwei Ehemännern, einem Ex-Freund und ihren zwei Söhnen ist eine starke Frau mit einem sehr eigenwilligen Kopf.
In „Zeiten, in denen wir uns alle zum Affen machen“ wird der Junge Eddie Teitelbaum zum Vater der Stinkbombe und Erfinder der Kakerlakentrennung.
Grace Paleys Storys bereiten großes Vergnügen. Was hat diese Autorin für eine lockere Schreibe und einen Humor der Extraklasse? Ihre Geschichten spielen im Milieu jüdischer Einwanderer in New York City, und sie lässt ihre Figuren reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und wird trotzdem nie platt oder banal:
„Ein Blick, und ich fragte mich: Wo ist ein jüdischer Junge bloß so groß geworden? »Bei Kiew«, verriet er mir.
Und wie das? »Meine Mama hat mich gestillt, bis ich sechs war. Ich war der einzige Junge im Schtetl, der vor Gesundheit strotzte.«
»Meine Güte, Vlashkin, sechs Jahre! Sie muss Weizenschrot da gehabt haben statt Brüsten, die arme Frau.«
»Meine Mutter war wunderschön«, sagte er. »Sie hatte Augen wie Sterne.«
Wie er sich ausdrückte! Da kamen einem die Tränen.“ (S. 9)
Dialoge wie dieser sind es, die den Storys einen einmaligen Ton geben. Dabei erzählt Paley aus dem nicht immer leichten Alltag ihrer meist weiblichen Protagonisten, nicht langatmig oder gar langweilig, sondern spritzig und witzig. Auf ein paar Seiten komprimiert sie ihre Geschichten auf das Wesentliche. Und die Erklärung dafür lieferte sie 1982 in einem Interview, in dem sie sagte:
„Dass ich mit der kurzen Form umgehen konnte, verdanke ich aber dem Gedichteschreiben.“ (S. 219)
Mein Fazit: die Short-Storys in „Die kleinen Widrigkeiten des Lebens“ von Grace Paley sind perfekt. Bitte lesen!
Grace Paley: Die kleinen Widrigkeiten des Lebens (1959).
btb Verlag, April 2018.
256 Seiten, Taschenbuch, 10,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.