Donna Freitas: Die neun Leben der Rose Napolitano

Der Körper von Frauen gehört ihnen nie allein. Das macht nicht nur der in Amerika gekippte „Roe vs. Wade“-Beschluss zum Thema Abtreibungsrecht deutlich. Donna Freitas setzt mit ihrem Roman „Die neun Leben der Rose Napolitano“ noch viel früher an – und zwar beim noch nicht mal gezeugten Kind. Ihre Protagonistin Rose ist eine erfolgreiche Professorin, verheiratet mit dem Fotografen Luke und mit der klaren Einstellung, keine Kinder haben zu wollen. Das wird ihr von der Gesellschaft übelgenommen. Sie mache einen Fehler, den sie bereuen werde. Die Muttergefühle würden schon noch in ihr erwachen. Könnte es sein, dass Luke nicht der Richtige ist? Die Zerrissenheit der Frauen, die perfiden Erwartungen und Widersprüche der Gesellschaft sowie Rollenbilder, die zum Scheitern verurteilt sind – all dies beschreibt die amerikanische Autorin absolut nahbar und nachvollziehbar. Ein Buch, das verärgert, berührt und Frauen Mut macht, auf ihr eigenes Bauchgefühl zu hören. Was auch immer dieses ihnen mitteilt.

Als Luke, der zu Beginn ihrer Ehe noch versprochen hatte, ebenfalls keinen Nachwuchs haben zu wollen, plötzlich seine Meinung ändert, steht Rose vor einem Dilemma. Soll sie auf ihrem Standpunkt beharren und ihn verlieren? Soll sie ihn ziehen lassen und die beste Beziehung ihres Lebens ruinieren? Könnte sie ihre Meinung vielleicht ebenfalls ändern? Was, wenn sie im Alter ganz allein ist? Und ihre Mutter würde sich so sehr über ein Enkelkind freuen!

Der Plot geht von einer Schlüsselszene aus: Luke entdeckt, dass Rose nicht wie versprochen ihre Schwangerschaftsvitamine genommen hat. Rose macht ihm noch einmal klar, dass sie keine Kinder will und ihm dieses falsche Versprechen nur gegeben hat, um etwas mehr Ruhe in ihre Ehe zu bringen. Daraufhin eskaliert der Streit, Luke verlässt Rose. Ausgehend davon, entwirft die Autorin ein meisterliches Kaleidoskop von neun möglichen Leben, die Rose leben könnte, wenn sie anders argumentiert, sich anders entschieden oder verhalten hätte. Dies mag erstaunen, da den meisten LeserInnen vermutlich nur zwei Alternativen einfallen: die Entscheidung für oder gegen ein Kind. Doch Freitas schafft es mit meisterlicher Beobachtungsgabe, die ganzen Zwischenstufen des Lebens einzubauen.

Mal ist es Rose, die ihren Ehemann verlässt, „Er hatte beschlossen, dass ich ihm nicht genug war. Aber vielleicht ist es in Wirklichkeit umgekehrt – er war mir nicht genug. Die Freiheit dieser neuen Wirklichkeit erwacht in mir. Endlich.“ (S. 126). Mal verlässt Luke Rose, mal versuchen beide ihre Ehe irgendwie aufrecht zu erhalten, mal geht einer von beiden fremd. Dann gibt es noch die Varianten, in denen sich Rose zu einem Kind überreden lässt, in manchen Leben geht sie ganz in ihrer Mutterrolle auf, in manchen verzweifelt sie an der neuen Rolle. In manchen Lebenswegen stellen sich bereits Probleme bei der Empfängnis ein, denn nun gibt es nur noch Sex nach Stundenplan beziehungsweise Fruchtbarkeitskalender. „Wie nennt man eigentlich das, was Luke und ich gerade machen? Gewiss, es ist eine Art Sex, und rein technisch waren wir auch beide damit einverstanden. Aber ist er gewollt? Gewünscht? Ich kann mit Entschiedenheit und Gewissheit sagen, dass der Sex, den ich da gerade über mich ergehen lasse, nicht gewollt ist. Und trotzdem mache ich es. Als was kann man ihn folglich bezeichnen? Halb einvernehmlich? Ein rein körperlicher Austausch? Bin ich folglich eine Art Prostituierte in meiner eigenen Ehe?“ (S. 286)

Oft sind es nur Kleinigkeiten wie Formulierungen oder ob jemand seine Ansicht ruhig oder aggressiv zum Ausdruck bringt, die den weiteren Verlauf in völlig andere Richtungen lenken. In den Episoden oder „einzelnen Leben“ springt Freitas in der Chronologie vor und zurück, lässt bestimmte Ereignisse von mehreren Rose-Versionen durchspielen. Die äußeren Rahmenbedingungen wie die Erkrankung von Roses Mutter, die mögliche oder tatsächliche Affäre sowie die Entwicklung von Tochter Addie in den Versionen, in denen sich für Rose ein Kind entschieden, bleiben konstant. Am Ende stellt sich heraus, dass die eigentlich wichtige Schlüsselszene schon weitaus früher stattgefunden hat. Jene Verschmelzung und Verkettung der Lebenslinien, die allesamt auf ein und dasselbe Fazit hinauslaufen, sind wunderbar konstruiert und eine wahre Lust zu Lesen!

Als Leserin ist man bei Freitas mitten im Plot. Vielleicht liegt es daran, dass Freitas selbst Wissenschaftlerin und Professorin ist, die sich gegen Kinder entschieden hat. Die studierte katholische Theologin versteht es allerdings ebenso gut, die Mutterseite von Rose zu beschreiben, das Auf und Ab der Gefühle, die bedingungslose Liebe zu ihrer Tochter, als hätte sie selbst schon etliche Kinder zur Welt gebracht. „Man meint immer, ein Kind würde immer nur nehmen und nicht geben, aber plötzlich sind die Kids diejenigen, die geben, ohne sich dessen auch nur bewusst zu sein. Einfach, indem sie da sind.“ (S. 337)

 

Fazit: Ein wunderbares, längst überfälliges Buch, das nicht nur das Thema „Muttersein, ja oder nein?“ schonungslos ehrlich präsentiert. Es stellt ebenso gesellschaftliche Konflikte über das Rollenbild der modernen Frau in den Mittelpunkt sowie die Frage, was uns wirklich mit Menschen verbindet. Ein Roman, wie dafür geschaffen, ihn in einem Atemzug zu verschlingen. Denn hier fiebern LeserInnen nicht nur einmal, sondern gleich neun Mal mit ihrer Protagonistin mit. Das beliebte „Was wäre, wenn…“-Spiel wurde selten literarisch so gekonnt umgesetzt.

Donna Freitas: Die neun Leben der Rose Napolitano.
Aus dem Englischen übersetzt von Judith Schwaab.
btb, Mai 2022.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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