Im Angesicht des einjährigen Krieges zwischen Russland und der Ukraine trifft „Geschichten aus der Heimat“ von Dmitry Glukhovsky direkt ins Schwarze. Ein russlandkritisches Buch, ein Autor, der sein Heimatland verlassen musste, um nicht in die Fänge der Regierung zu geraten, um weiterschreiben zu können, und dann ist es auch noch jener Autor, den wir seit seiner Metro-Trilogie kennen, lieben und verehren.
Dass dieses Buch in Kürze Popularität erlangte, ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich. Bereits das Zitat des Autors vorne auf dem Cover „Russland muss die Möglichkeit haben, wieder ein freies Land zu sein.“ zieht eine Leserschaft an, die sich in dem Leid jenes Landes laben will, das vor genau einem Jahr ein anderes angriff. Verständlich. Und doch etwas populistisch. Nun, ich denke, diese Art des Kapitalismus ist nichts Besonderes und dem Werk nicht zur Last zu legen. Und doch frage ich mich, was steckt hinter dem Buchdeckel? Sind es nur die Umstände, die hier zum lesen und jubilieren anregen oder zeigt Glukhovsky ein weiteres Mal, dass er als einer der hellsten Sterne des russischen Literaturhimmels leuchtet?
Das Buch aufgeschlagen finden wir uns in einer russischen Geschichtensammlung wieder, fast einem Märchenbuch gleich. Nur dass diese Märchen nichts mit Kindlichkeit zu tun haben, sondern zum Schauern anregen. In Murakami-Art zählt Glukhovsky hier auf das Unverständliche, Kuriose, lässt Aliens mitten in Moskau landen und die Regierung mit dem Teufel zusammenarbeiten, lässt hier und da jemanden sterben und Maschinen das Richterurteil sprechen. Aus den losen Fäden aller Geschichten webt er Russlands Leichentuch und die Grabesinschrift könnte lauten: Россия (Russland), geliebte Mutter: Gefallen für Korruption und Machtmissbrauch, erstickt an Habgier und Gleichgültigkeit, ertrunken in Wodka und Propaganda, Herzversagen durch die Perspektivlosigkeit unerreichbarer Träume und nicht zuletzt erschlagen durch sibirische Einsamkeit.
Verlassene Charaktere
Glukhovsky erzählt von verlassenen, verlorenen Charakteren, die mal in ihrem Leid ersaufen und sich mal den langen Weg in den Kreml bahnen, mit viel Geld und wenig Geduld, doch am Ende ersaufen auch sie – in ihrer eigenen Unersättlichkeit.
„Was ist der Sinn des Lebens?“ Seine Stellvertreter horchten auf, die Tonassistenten steckten ihre fluffigen Mikrofone an langen Angelruten in die Kabine, und Pronin belohnte Ptscholkin mit einem langen Blick. Dann öffnete das Orakel seine Lippen … ‚Sägen!‘, sprach es laut und klar. ‚Erschließen!‘ Und deutete mit der Hand auf den bereits deutlich ausgedünnten Mischwald.“
Der Sinn des Lebens? Ein vielgesuchtes Wesen, das sich in Geld und Macht versteckt und von denjenigen nicht gefunden werden kann, die schon alles haben oder nichts. „Erschließen. Sägen“, antwortet der Holzarbeiter dem Minister mitten im sibirischen Nirgendwo – und beendet damit seine Suche. Weitermachen. Immer weitermachen. Bis kein Wald mehr da ist, bis das Leben sich dem Ende neigt; in Territorien vordringen, die bisher unerschlossen waren; die ewige Sucht des Menschen, alles und jedes zu erforschen und nicht zu ruhen, bevor er Herr über die Welt ist.
Am Ende droht der Fall
In den meisten Geschichten Glukhovskys findet sich so eine Wendung. Aus dem Wodkanebel einer heruntergekommenen Sowjetwohnung hoch zum Minister, von der männerlosen Frau zur Mutter des Messias, immer höher und höher und doch droht am Ende der Fall, denn ganz nach oben fährt der Lift niemals:
„‘Was wollen Sie denn werden?‘, fragte der Lift müde. ‚Nun … Präsident?‘ ‚Na klar!‘, versicherte ihm der Lift. ‚Ich habe es doch erklärt: Meritokratie. An der Macht sind jene, die es verdient haben. Sparen Sie nur, sparen Sie.‘ ‚Und Ministerpräsident?‘ ‚Also, das nicht‘, antwortete der Lift verlegen. ‚Daraus wird nichts. Dieser Posten ist in unserem System sowohl Bremse als auch Gegengewicht […]‘“
Obwohl er in vielen Geschichten vorkommt, erreicht keine der Figuren den höchsten Posten des Landes. Wie auch, dieser ist seit der Jahrhundertwende und auf Lebenszeit unantastbar. Geld ist die Eintrittskarte zu allem, doch der Nationale Führer ist gottgleich. Sein Name wird dabei im ganzen Buch nur einmal genannt, in einer untergeordneten Rolle. So sind die Geschichten auch weiterhin dunkle Märchen, allgemeingültige Fabeln, die kein Alter kennen und keine Aktualpolitik, sondern fragen: Und die Moral von der Geschicht…?
Die Moral ist vielfältig, nicht auf ein einzelnes Land, sondern auf jede machtgesteuerte Gesellschaft dieser Welt anwendbar, sogar auf jeden einzelnen von uns. Sie wiederholt sich, karikiert sich in den aufeinanderfolgenden Geschichten und brennt sich ein. Sie schreit nach Mama, offenbart eine Sehnsucht, die zu naiv ist, als dass sie in diese Welt passen könnte, und doch als Ziel gelten kann. Und wenn wir in einem Bergschacht dem Tod entgegensehen, dann wünschen wir uns doch alle ein Väterchen Frost, das uns ans Tageslicht holt und uns unsere Träume zurückbringt.
An Schönheit kaum zu übertreffen
„Geschichten aus der Heimat“ ist auf jede Heimat anwendbar. Auf die äußere wie innere. Und doch spielt es in Russland, einem Land, das an Schönheit wohl kaum zu übertreffen ist, an kulturellem Reichtum, an Literatur, Gesang, Tanz, an Geschichte nur so überquillt und sich fast um unseren ganzen Planeten streckt. Es ist ein Land, das unter seiner Größe, Armut und Machtmissbrauch leidet, dessen Jungen in einen sinnlosen Tod geschickt werden und dessen Frauen nirgendwo einen Platz haben.
Die Menschen dort sind wie die Menschen hier, sie haben Träume, Familie, sind an manchen Tagen hoffnungslos, sie streiten, lieben, wollen und versagen. Ich frage mich, warum habe ich mich in der Schule unter dem Tisch versteckt, als meine Mitschüler bei jedem Flugzeug riefen: „Die Russen kommen!“? Wie kann es sein, dass ich als ein Kind der späten Neunziger mit einem Feindbild Russlands großgeworden bin, das heute wieder aufgegriffen wird? Russland – das ist nicht unser Feind. Russland ist groß und schön und voller eigener Geschichten, es ist die Heimat des Autors und noch so vieler anderer, es könnte genauso gut unsere Heimat sein. Das dürfen wir nicht vergessen und vielleicht ist dies letztendlich die Moral von der Geschicht: Hasse auch deinen Feind nicht, denn er trägt dein Gesicht.
Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat.
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg und M. David Drevs.
Heyne, Oktober 2022.
448 Seiten, gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Luisa Aufderheide.