Worte. Sind sie es, die den Dingen Bedeutung verleihen oder tun dies die Dinge selbst? Und ist es dasselbe mit Namen? Verleiht ein Name seinem Träger eine Identität? Und wer ist die Person auf der anderen Seite des Spiegels?
Fragen wie diese werden in Burhan Sönmez Anfang 2020 erschienenem Roman Labyrinth auf jeder Seite geboren und nicht wieder vergessen. Dabei ist das Vergessen präsent in jeder seiner Zeilen und gräbt sich in den nicht zweifelsfrei als Boratin zu benennenden Protagonisten ein. Denn Boratins Existenz verschwand bei einem Sprung von der Bosporusbrücke und ließ einen jungen Mann ohne Erinnerungen zurück. Ein junger Mann, der durch die Straßen des ihm nun fremden Istanbuls irrt, sich nicht zwischen seinem jetzigen Ich und dem früheren Boratin entscheiden kann, weder den einen noch den anderen kennt und versucht, dem Gesicht im Spiegel eine Identität zu geben.
Diese Suche nach sich selbst birgt auch die Suche nach dem Warum. Warum der Sprung von der Brücke, warum der Tod? Was ist mit dem Knoten geschehen, der Boratin dazu trieb, sein Leben den Wellen des Bosporus zu opfern? „Den bist du losgeworden,“, sagt ein vermeintlicher Freund des Nachts. „nicht durch Sterben, sondern durch Vergessen.“ Klingt da Neid in seiner Stimme mit? Ist es ebendies Vergessen, das der damalige Boratin bezwecken wollte? Für den Gedächtnislosen scheint dieser Zustand alles andere als erstrebenswert zu sein. Zwischen Tagen und Nächten verschwimmt seine Zeit, wird durch das Ticken der Uhr bedeutungslos, gestern und die Antike gleichen sich bis aufs Haar, lassen sich nicht unterscheiden, er kennt keines von beiden und driftet dahin auf ungleichmäßigen Wellen ohne Bedeutung und Klang. Zwischen unbekannten Freunden fühlt er nichts und die Frage stellt sich, ob das schlimmer ist als Schmerz. Jener Boratin begriff die Welt nicht durch Schauen, sondern durch Hören. Doch das Hören fehlt, Klänge scheinen ihm Missklänge zu sein, selbst die seiner eigenen Lieder. Der Blues jagt ihn, verhöhnt ihn, die Gitarre bleibt unangetastet und die Vergangenheit verspottet ihn mit jedem erkennenden Blick, der ihm auf der Straße zuteilwird. „Ich bin aus dem Meer geboren“, versucht er, seiner alten und zugleich neuen Freundin zu erklären. Was kümmert die Vergangenheit, schließlich gab es auch vor der Geburt keine Erinnerungen, schließlich kannten frühere Generationen kein Wort namens Ich. Und auch Boratin kennt es nicht mehr. Das Wort Niemand dagegen wirkt greifbar, liegt in seinen neuentdeckten Gesichtszügen, der gerade erst als die eigene erkannten Stimme und den Tabletten im Nachtschränkchen, die sein Ich, oder Boratin wieder zutage bringen sollen. Erst mit der Zeit, mit den Tagen und Straßen, die er durchwandert und den Leuten, die er kennenlernt, mögen sie auch nur aus der schwesterlich liebevollen Stimme am Telefon bestehen, wird Boratin deutlich, dass es nicht um den Niemand geht, ebenso wenig wie um das Ich oder Boratin. Es geht darum, den Lügen zu entkommen, die in den gesprochenen Geheimnissen aller liegen, es geht darum, nach Hause zu kommen. Doch Zuhause ist weit entfernt, ein Zuhause, mit dem keinerlei Erinnerungen verbunden sind und das dennoch irgendwo dort draußen existiert. Dann das Gleichnis eines geschlossenen Bahnhofs, die Entscheidung, jemand Neues zu werden, jemand Neues in Istanbul. Neuanfänge werden mit dem Fallen des ersten Regens und dem Beginn von Nähe gebaut wie ein Haus, die Mauern aus Stein gesetzt, das Dach aus Träumen geflochten.
Die Reise, auf die Burhan Sönmez uns mitnimmt, hat noch lange kein Ende gefunden, ist gerade erst aus dem Meer geboren und gibt einen tiefen Einblick in eine zutiefst verwundete Seele, die zwar über keinerlei Erinnerungen verfügt, aber dennoch oder gerade deswegen furchtbar leidet. Sönmez zeichnet diesen verworrenen Leidensweg quer durch die Gassen Istanbuls und macht ihn gleichzeitig zu einem Weg der Hoffnung. Er stochert nach dem Elementaren in allen Dingen und bringt es ans Licht. Dabei bleibt jedoch vieles, wie das Wesen des Ich und die Bedeutung eines Namens, eines Gesichts, einer Identität, unklar. Mehr als 1,2,3 ist viel, heißt es an einer Stelle des Romans und Sönmez kann diese Aussage bestätigen, folgen seine Worte doch einer Suche nach ebendiesem Viel und vermögen es gleichzeitig, genau das zu sein. Ihr Strom ergießt sich über den Leser und macht es gleichzeitig einfach und schwer, ihm zu folgen, kennt doch jeder von uns genau solche sturmgefluteten Flüsse der eigenen Gedanken und kann sich damit identifizieren. Das Fehlen von Anführungszeichen reiht sich ein in diese Kette der Ecken und Kanten und Wege des Labyrinths, denn Fremde bleiben Fremde und genau wie der gedächtnislose Boratin fällt es auch vor den Buchseiten schwer, jedem Satz einen Namen zuzuordnen.
Letztendlich aber, und darauf kommt es bei dem Wechsel des Erzählers zwischen Ich, Boratin und wieder Ich an, folgen all den Fragen kaum Antworten und auch wenn sie existieren, so bleiben sie bei Boratin am Bahnhof zurück, lassen ihn sich von uns entfernen und sein eigener Mensch werden, wartend darauf, nicht wegzufahren sondern zurückkehren und endlich ankommen zu können.
Burhan Sönmez: Labyrinth.
btb, März 2020.
160 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Luisa Aufderheide.
Das Buch, mithile der Rezension machen neugierig. Findet er nun zu seinem ‚Ich‘ zurück?? Ist es nicht etwas, was jede/r schon einmal erlebt hat? Die Suche nach dem eigenen ICH, der eigenen Identität? LG