Sibylle Lewitscharoff & Heiko Michael Hartmann: Warten auf

Unverhofft findet sich Gertrud Severin im Jenseits wieder – das vermutet sie jedenfalls, denn wer weiß schon, wie es dort aussieht. Die 52-Jährige ist verwirrt. Sie hat keine Ahnung, wie sie hierhergekommen ist. Zwar fühlt sie sich etwas seltsam, aber sie weiß noch, wie sie heißt, wo sie herkommt und kann sich an einiges aus ihrer Vergangenheit erinnern. Ihr Körper ist verschwunden, ihre Stimme funktioniert allerdings noch und nervt ihren Nachbarn, der sich schon mit seinem Tod abgefunden hat. „Lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin tot! Gestorben! Jetzt grade.“ (Seite 9)

Doch da sie nur zu zweit in dieser seltsamen Zwischenwelt festhängen (und Gertrud sich schon immer gerne unterhalten hat), kommen die beiden ins Gespräch. Gemeinsamkeiten finden sie nur wenige. Verständnis und Unverständnis wechseln sich ab, auf Annäherung folgen Meinungsverschiedenheiten, Widerspruch ist angesagt.

Kein Wunder. Während Gertrud ein geselliger Mensch war, Kunst und Kultur mit allen Sinnen genossen hat und auch jetzt noch an den christlichen Gott und seine Gerechtigkeit glaubt, weiß der eigenbrötlerische, namenlose Herr neben ihr kaum mehr, wer er war (oder ist). „Sie scheinen geradezu das Gegenteil von mir zu sein. Ich bin purer Gedanke, befreit von mir selbst weiß ich nichts von mir außer dem, was ich gerade denke.“ (Seite 10)

Es entspinnt sich ein Schlagabtausch, in dem sie sich nichts schenken. Erlöst der Tod einen Menschen, führt er ihn in ein Reich der Glückseligkeit oder ist mit ihm alles zu Ende? Sind an Gottes Vergebung Bedingungen geknüpft, gibt es die kleinen Sünden, die leicht vergeben werden, und die großen, die unverzeihbar sind? Wer hat welche Strafe verdient? Welche Rolle spielt die Religion im Leben eines Menschen, welche die Philosophie? Was macht das Leben aus und was den Tod, was ist überhaupt der Unterschied?

Kierkegaard, Aristoteles, Dante, Dostojewski, Nietzsche und Kafka sind nur einige der berühmten Namen, deren Erkenntnisse und Aussagen ins Feld geführt werden. Auch die Psyche erforschen die Wartenden in ihren Gesprächen. Gertrud fliegen dabei Gedanken zu, über die sie sich nur wundern kann. Sie hat das Gefühl, schärfer denken zu können, sich an alles haargenau zu erinnern, was sie in ihrem Leben gelesen und gehört hat. Auch Gedichte, aus denen sie zitiert, gehören zu ihrem Jenseits-Repertoire. Dann beginnt sie, andere Gestalten wahrzunehmen, wandernde Seelen, mit denen sie das Gespräch sucht. Manche kennt sie sogar – wenn auch nicht persönlich. Ihr Gegenüber tut das als reine Einbildung ab, sogar noch, als er hört, was Gertrud mit ihnen spricht.

Doch die beiden sind auch froh, dass sie sich haben, die Angst und die Unsicherheit teilen können und nicht völlig alleine sind. Sie beginnen sich zu fragen, warum sie hier gemeinsam ausharren und warten müssen. Was verbindet und was trennt sie? Was passiert als nächstes? Warten sie überhaupt oder ist dieser Zustand schon das Ende? Können sie sich gegenseitig erlösen, indem sie sich einander annähern, indem sie den anderen verstehen oder sogar mit ihm verschmelzen?

„Warten auf“ ist ein außergewöhnliches Buch. Äußerst klug, kenntnisreich und überraschend, dabei poetisch und manchmal auch handfest geerdet lassen die vielfach ausgezeichneten Autor*innen Sibylle Lewitscharoff und Heiko Michael Hartmann die Positionen ihrer Protagonisten aufeinanderprallen. Es ist höchst unterhaltsam und im selben Maße nachdenkenswert, wie sie dafür sorgen, dass sich die Figuren aneinander reiben können. Die Leser*innen werden herausgefordert, über sich und ihre Ansichten zu reflektieren. Nicht alles ist leicht zu verstehen und das kann auch gar nicht so sein. So existenzielle Themen haben es verdient, im Gehirn hin- und herbewegt, vielleicht auch mehrfach gelesen zu werden. Wer sich davor nicht scheut, dem kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen.

Sibylle Lewitscharoff & Heiko Michael Hartmann: Warten auf: Gericht und Erlösung: Poetischer Streit im Jenseits.
Herder, September 2020.
208 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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