Das Buch „Gehen allein unter Menschen“ des spanischen Autors Antonio Muñoz Molina ist das Tagebuch eines Spaziergängers. Es gibt keine Handlung im klassischen Sinne. Der Erzähler durchstreift verschiedene Städte – Paris, Madrid, New York – er geht scheinbar ziellos durch Straßen, nur um des Gehens willen. Dabei beschreibt er seine Eindrücke, seine Gedanken. Er ist ein Sammler, er sammelt Worte, Meldungen, Gesprächsfetzen, Werbebanner. Er saugt jedes Stück Schrift und jede Information auf. Unterwegs mit Stift und Notizbuch, schreibt er auf, was ihm begegnet und was ihm dazu einfällt. Er bannt Geräusche mit der Aufnahmefunktion des Smartphones, sammelt Prospekte, Werbezettel, Plakate, um sie später in Collagen neu zu ordnen. Er zeichnet ein Porträt der Städte und der Menschen, die in ihnen leben.
Das Buch gliedert sich in viele kleine Abschnitte, meist nicht länger als eine Seite. Jeder Abschnitt beginnt mit einem fettgedruckten und programmatisch klingenden Satz, dessen Verbindung mit dem nachfolgenden Text sich nicht immer erschließt. Die Abfolge der beschriebenen Spaziergänge ist nicht linear, Ort und Zeit ändern sich von Seite zu Seite und sind auch nicht immer ersichtlich.
Der Erzähler ist ein Beobachter, er steht außerhalb der Handlung und dokumentiert das Geschehen. Nur selten ist er Teil der Ereignisse, etwa, als in Nizza ein Lastwagen in die Menschenmenge rast. Abgesehen von wenigen Momenten wahrt er die Distanz. Er ist wie ein Spiegel, der das Licht aufnimmt, es bündelt und zurückwirft. Es dabei umformt und in andere Zusammenhänge setzt. Katastrophenmeldungen durchwirkt von Werbesprüchen zeigen die Absurdität unserer Zeit. Indem er sich aus dem Geschehen nimmt, kann er verschiedene Facetten der Gesellschaft zwischen dem polierten Glanz der Boulevards und dem Abfall in heruntergekommenen Straßen wertungsfrei zeigen.
Perspektivwechsel erlauben ihm, den Abstand zu verringern oder zu erhöhen. Es gibt den Ich-Erzähler, der seine Wahrnehmung und die daraus resultierenden Assoziationen schildert. Der personale Erzähler wiederum nimmt die Perspektive von verschiedenen Personen ein – die des Flaneurs oder die einer anderen Person. In manchen Abschnitten wird der Leser wie in einem Werbefilm direkt angesprochen. Zudem gibt es immer wieder Bereiche, die keine Erzählstimme haben und eher einem Essay oder einem Sachtext gleichen.
Molinas Erzähler sieht sich in der Tradition der Flaneure vergangener Tage. Er zitiert Walter Benjamin und Charles Baudelaire, sucht nach den Spuren von Oscar Wilde und nach dem Paris von Edgar Allen Poe. Er ist ein Chronist und seine Aufgabe ist die Bestandsaufnahme des Hier und Jetzt, des gerade Geschehenden, sieht dabei auch das Gewesene. Er beschreibt das ambivalente Wesen der Städte als angenehmen Lebensort einerseits und als Zeugnis unseres zerstörerischen Lebensstils andererseits.
„Gehen allein unter Menschen“ ist kein Buch, welches man in einem Zug liest. Vielmehr will es genossen werden, es verlangt, dass man sich auf die Bilder und auf die Sprache einlässt, sich daran erfreut. Es ist Slow Food für den Geist.
Antonio Muñoz Molina: Gehen allein unter Menschen.
Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen.
Penguin Verlag, Oktober 2021.
544 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.