Im vierten Band mit Fräulein Gold hat die Stunde der Frauen geschlagen, so dass für die Aufdeckung von Verbrechen wenig Raum bleibt. Hulda hat inzwischen eine steile Karriere zurückgelegt: Aus der freischaffenden Hebamme ist die leitende Hebamme einer angesehenen Frauenklinik in Berlin-Mitte geworden. Endlich hat sie die Macht, einzelnen Gebärenden ein angenehmes Umfeld zu schaffen. Auch ihre Erfolge bei schwierigen Geburten erstaunt so manchen Arzt.
Privat geht es ebenfalls aufwärts: Der junge Arzt Johann will sie nach einem Jahr intensiver Werbung endlich heiraten. Im Vergleich zu Hulda sieht er keine Hindernisse, denn seine vermögenden Eltern haben ihm bisher jeden Weg geebnet. An seiner Seite lernt Hulda die Licht- und Schattenseiten der höheren Gesellschaft kennen. Ihre Neugier und Zweifel finden neue Nahrung.
Der Name Anne Stern steht für kurzweilige Unterhaltungsromane, in denen die Autorin die großen Themen Gleichberechtigung und Frauengesundheit vor einem historischen Hintergrund bearbeitet. 1925 geht es in Berlin für viele wirtschaftlich ein wenig aufwärts. Es herrscht in den Arbeiterkreisen aber trotzdem tiefe Armut. Die Hebamme Hulda Gold sieht die Auswirkungen täglich bei den Schwächsten in der Gesellschaft, den Frauen und Kindern. Ihr missfällt besonders die Doppelmoral, mit der Frauen zum gebärenden Eigentum der Ehemänner und der rechtsorientierten Politik geworden sind. Auf der einen Seite gelten behinderte Säuglinge als minderwertig, und auf der anderen Seite darf eine Frau nach dem §218 nicht selbst entscheiden, ob sie generell ein Kind austragen möchte. Diese Moral geht auch in andere Lebensbereiche über. Denn Hulda Gold sehnt sich nach einer Familie und eigenen Kindern. Sie sieht aber auch die Hindernisse, wenn sie gleichzeitig ihren geliebten Beruf ausüben will.
Vor 100 Jahren verachtete die Gesellschaft unverheiratete Mütter und ließ kinderreiche Ehefrauen und Witwen in ihrer wirtschaftlichen Not allein. Alleinstehende Mütter bekamen keine gut bezahlte, moralisch einwandfreie Arbeit und eine Wohnung meist nur unter Schwierigkeiten. Denn tolerante Vermieter liefen Gefahr, als Kuppler angezeigt zu werden, wenn sie Unverheirateten die „Gelegenheit zur Unzucht“ gaben, und wer offensichtlich schwanger und unverheiratet war, konnte diese Gelegenheit zur Unzucht nicht leugnen.
Dieses komplexe Dilemma bedeutet für Hulda, bei der Gründung einer Familie auf ihre Freiheit und ihren Beruf zu verzichten, oder sich allein in der von Männern geprägten Geburtshilfe zu behaupten.
Wer in Huldas Welt eingetaucht ist, möchte da nicht so schnell wieder raus. Da hilft am Ende des Romans auch nicht die Kostprobe für den Folgeband. Vorsicht: Suchtgefahr.
Anne Stern: Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen.
Rowohlt, November 2021.
464 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.