Sara Nović: Das Echo der Bäume

Zagreb 1991. Der Krieg erreicht die Stadt kurz nach Anas zehntem Geburtstag. Lebensmittel sind seit längerem knapp, nun wird es plötzlich wichtig, ob der Patenonkel eine kroatische oder eine serbische Zigarettensorte raucht. Der Strom fällt immer wieder aus, das Wasser wird oft abgestellt, die ersten Flüchtlinge kommen nach Zagreb und werden von den Einheimischen beäugt. Es muss verdunkelt werden, irgendwann tönt der erste Luftalarm, alle flüchten in provisorische Bunker. Ana ist gerade mit ihrem besten Freund Luka unterwegs. Die beiden wissen, was bei Alarm zu tun ist, scheinbar sind die Menschen in der Stadt auf alles vorbereitet. Bei ihren Eltern fühlt sich Ana geborgen, vor allem beim Vater, zu dem sie eine besondere Verbindung hat.

Anas Schwester Rahela ist noch ein Baby, sie ist krank; es wird immer schwieriger, sie am Leben zu erhalten. Die Eltern fassen den verzweifelten Entschluss, das Kind zur Behandlung nach Amerika zu schicken. Sie bringen Rahela nach Sarajevo zur Hilfsorganisation. Auf dem Heimweg geraten Vater, Mutter, Ana und andere Zivilisten in die Hände serbischer Freischärler. Ana überlebt als Einzige durch einen Trick ihres Vaters. „Ich wusste es bereits, und doch rückte ich näher an ihn heran, stieß ihn mit der Schulter an. „Wach auf.“ Seine Augen waren fest zugekniffen, als spielten wir Verstecken und er zählte bis zwanzig, doch da war Blut – an seinem Hals, auf seinen Lippen, in seinen Ohren.“ (Seite 94)

New York 2001, Ana ist Studentin. Einige Monate nach dem Tod der Eltern wurde sie auf illegalem Weg nach Amerika zu den Pflegeeltern ihrer leiblichen Schwester gebracht und adoptiert. Nach einem Umzug kennt außerhalb der engsten Familie niemand mehr Anas Vergangenheit, nicht einmal Brian, mit dem sie seit mehr als einem Jahr zusammen ist. Sie kann einfach nicht über ihre Traumatisierung sprechen. „Obwohl so viele Jahre vergangen waren, gab es noch immer keine erzählbare Version dessen, was geschehen war.“ (Seite 104) Ana schweigt, gibt vor, ihr Leben zu leben. Oft schläft sie nächtelang nicht, um den Alpträumen zu entgehen. Trotz des freundschaftlichen Verhältnisses zu ihren amerikanischen Eltern und der Beziehung mit Brian fühlt sich nirgends zugehörig. Die Erinnerungen an ihre leiblichen Eltern verblassen. Sie beschließt, nach Zagreb zu reisen, ihren alten Freund Luka zu suchen und den Spuren der Vergangenheit zu folgen.

Nach und nach enthüllt sich Anas Geschichte, schonungslos, in klaren, knappen Worten, ohne jedes Selbstmitleid. Auf der Reise zurück an die Orte ihrer Kindheit werden neben den seelischen Verletzungen auch die äußeren Wunden sichtbar, die der Krieg hinterlassen hat, Einschusslöcher in Häuserwänden, Gegenden, die immer noch vermint sind, verlassene Dörfer. Doch Ana entdeckt auch gute Erinnerungen, wie die Handabdrücke, die sie und ihre Eltern im nassen Beton beim Ferienhaus an der Adria hinterlassen haben. Sie findet ihre alten Wurzeln wieder und es gibt Hoffnung, dass sie es irgendwann schaffen kann, neue zu schlagen.

Sara Norić geht mit ihrer Figur bis an die Schmerzgrenze. Ana erzählt in der Ich-Form und dennoch distanziert. Gerade dieser Abstand wirkt glaubwürdig, scheint das Weiterleben möglich zu machen. Anas Geschichte lässt sie aus der Gruppe anonymer Kriegsopfer heraustreten und könnte dennoch so oder ähnlich in jedem modernen Krieg geschehen.

Klare Leseempfehlung für alle, die sich dem Thema Jugoslawien-Krieg stellen wollen.

Sara Nović: Das Echo der Bäume.
btb Verlag, März 2018.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.

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