Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land

Die Physikerin Ruth Schwarz forscht in Wien über die Blockuniversumstheorie – eine „alternative Theorie über die Zeit“ – und schreibt schon einige Jahre an ihrer Doktorarbeit, als sie erfährt, dass ihre Mutter und ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Sie ist schon vorher deutlich psychisch angeschlagen, die verschiedensten Tabletten helfen ihr durch den Tag und die Nacht

Nachdem ihre Tante ihr erzählt, dass es den Eltern wichtig war, in ihrem Heimatdorf Groß-Einland beerdigt zu werden, macht sich Ruth geschockt und wie im Rausch dorthin auf den Weg, um alles vorzubereiten.

Erst unterwegs fällt ihr auf, dass sie nicht weiß, wo Groß-Einland genau liegt. Die Eltern hatten kaum davon erzählt und waren in Wien heimisch geworden. Kein Straßenschild weist ihr den Weg, auf keiner Landkarte ist der Ort verzeichnet und die Dame vom Amt erklärt ihr, dass es in Österreich nie ein Groß-Einland gegeben hat.

Nur durch Zufall hört sie an einer Tankstelle von einem Mann, dass er nach Groß-Einland fährt. Obwohl sie ihn nach einer Weile verliert, findet sie – nachdem sie mit dem Auto auf einem Trampelpfad ein steiles Waldstück durchquert hat – endlich den Ort und hat das Gefühl, in einem alten, österreichischen Städtchen gelandet zu sein. „Alles war dabei unfassbar sauber und heil – eine Perfektion, wie ich sie an keinem Quadratmeter Wiens je kennengelernt hatte.“ (Kapitel 4)

Die Sitten und Gebräuche sind – gelinde gesagt – seltsam und das Verhalten der Menschen wirft einige Fragen auf. Als Ruth ein Zimmer in einer Pension bezieht entwickelt sich zum Beispiel folgender Dialog (Kapitel 4): „‚Mein Name ist Dorothee, wenn Sie etwas brauchen, melden Sie sich.‘ Ich zeigte auf ihre Brust. ‚Aber da steht doch Frau Erna.‘ ‚Aber nein, das ist der Name des Gasthofs.‘ ‚Ist das hier nicht die Pension zum Fröhlichen Kürbis?‘ ‚Doch, doch.‘“

Dennoch fühlt sich Ruth schnell heimisch. Alle scheinen ihre Eltern gekannt zu haben und bald nach ihrer Ankunft bietet ihr die Gräfin, die in ihrem Schloss auf dem Hügel thront und der der halbe Ort gehört, eine Arbeit an. Es geht um das Loch, das riesige Loch, das die Statik von Groß-Einland untergräbt.

Ursprünglich wohl ein Bergwerk, später auch als Konzentrationslager genutzt, dehnt es sich unter dem Städtchen aus, lässt immer wieder und immer öfter Straßen und Häuser absacken, öffnet seinen Schlund und scheint den Ort verschlingen zu wollen. Doch die Bewohner ignorieren die Schäden und große Teile der Geschichte dieses Abgrunds. Das Leben geht weiter, keiner sieht so genau hin. Ruth beginnt nachzufragen und in den Archiven zu wühlen. Sie ist nicht nur den Geheimnissen des Lochs, sondern auch ihrer Familiengeschichte auf der Spur.

„Das flüssige Land“, der Debütroman der österreichischen Autorin Raphaela Edelbauer, steht auf der Longlist des deutschen und des österreichischen Buchpreises 2019. Literarisch zeigt er eine außergewöhnliche Qualität: Vielschichtig, mit unverbrauchten Bildern und Metaphern erzählt Raphaela Edelbauer eine Geschichte, in die man viel hinein- und aus der man viel herauslesen kann. Physik, Philosophie und Psychologie spielen ebenso eine Rolle wie Mystik, es geht um die Zerstörung der Natur, darum, wie man Macht erlangt und erhält, um die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, um Wegsehen, Verdrängung und Schuld und noch um einiges mehr.

Das Ganze ist eingebettet in eine absurde, oft an Kafka erinnernde Geschichte, bei der man immer wieder den Kopf schüttelt oder die Menschen schütteln möchte, die vor allem die Augen verschließen, was ihre Ruhe stören könnte, auch wenn sie bei Straßen, die plötzlich einen halben Meter tiefer liegen schon längst gestört sein müsste. Die Zeit scheint manchmal stillzustehen, manchmal rast sie davon. Nicht nur Ruth verliert ihr Zeitgefühlt – ob es bei ihr der Tablettensucht geschuldet ist bleibt offen.

Wie so vieles offen bleibt in diesem Buch. Antworten findet man keine, aber interessante Fragen, Rätsel und Denkanstöße in einer geschliffenen Sprache. Leserinnen und Lesern, die sich darauf einlassen wollen, kann ich „Das flüssige Land“ sehr empfehlen. Mit diesem Roman können Sie eine spannende Reise in eine außergewöhnliche Welt antreten.

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land.
Klett-Cotta, August 2019.
350 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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Ein Kommentar zu “Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land

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