Petra Hammesfahr: Als Luca verschwand

Ein neun Monate alter Junge verschwindet vor einer Drogerie. Wer könnte ein Motiv für diese grausame Tat haben? Zuerst geraten die Mutter sowie eine verwirrte Alte ins Visier der Ermittler. Doch gibt es Verbündete? Geht es um Lösegeld, Rache, menschliches Versagen? Weitere Personen streifen das Geschehen, mit Motiven, die im Dunkeln liegen. Durch gut gehütete Geheimnisse, mysteriöse Zufälle und Verluste, an denen sie zu zerbrechen drohen. Petra Hammersfahr ist ein exzellenter Pagetuner mit Gänsehautgarantie gelungen. Ohne blutiges Gemetzel schafft sie Horrorszenarien, die hinter Fassaden lauern. Subtil, einfühlsam und daher umso erschreckender.

Welche Mutter stellt ihr Baby mitten im Januar unbeaufsichtigt vor einer Drogerie ab, um ungestört Lippenstifte zu kaufen? Für die Ermittler ist Mel, die Mutter des verschwundenen Luca, von Anfang an verdächtig. Hat die offensichtlich überforderte Frau, deren ältester Sohn Max ebenso allein durch den Laden streift, ihr Kind getötet und will es nun als Entführung vertuschen? Zeugen haben jedoch auch die „verrückte Alte im Poncho“ am Kinderwagen beobachtet. Sie soll kleinen Kindern Süßigkeiten schenken und schon mehrmals Familien gestalkt haben. Max traf vor dem Kinderwagen zudem auf einen mysteriösen „Buhmann“, der ihn absichtlich erschreckt und somit abgelenkt hat.

Da ist noch die Großmutter des Jungen, Gabi Schneider, eine erfolgreiche Krimiautorin. Ihr Sohn Martin hat den Kontakt zu ihr abgebrochen. Luca hat sie noch nie gesehen. Hat Gabi, die über genügend kriminologischen Sachverstand verfügt, die Entführung fingiert, um an ihren jüngsten Enkel zu kommen? Diesen Verdacht äußert Martin gegenüber Arno Klinkhammer. Der Kommissar sollte sich eigentlich im Hintergrund halten, da er persönlich in den Fall involviert ist. Er ist ein guter Bekannter der Familie, seit er vor über 30 Jahren Gabis toten Geliebten mit aufgeschlitzter Kehle in dessen Taxi gefunden hat. Zudem verlegt Klinkhammers Frau Gabis Romane in ihrem Verlag. Daher will Arno die Geschichte nicht glauben, obwohl er Gabis aufbrausendes Temperament kennt. Die Ermittler fahren mehrgleisig, denn mit jeder Stunde verringert sich die Chance, den kleinen Luca lebendig wieder zu finden.

Die fast 500 Seiten dieses Romans beziehen sich auf eine Zeitspanne von lediglich 24 Stunden. Das enorm verdichtete Geschehen lässt einerseits das Gefühl einer Liveübertragung entstehen. Wir folgen den Protagonisten an unterschiedlichen Orten zur gleichen Zeit. Andererseits wird der Plot durch Rückblenden aufgelockert, was das eben Gelesene in einen neuen Kontext rückt. Hier ist beim Lesen Konzentration gefragt, um den Überblick zu behalten. Auf diese Erzählweise begegnen uns innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Akteuren, deren Schicksale auf eine offensichtliche oder verborgene Weise miteinander verbunden sind.

„Als Luca verschwand“ gerät auch deshalb so spannend, weil der Roman ein universell tragisches Gefühl – das des Verlustes – auf unterschiedliche Weise abhandelt. Zum einen den Verlust eines Kindes, ein Motiv, das uns im Verlauf der Geschichte mehrfach begegnet. Ob durch Verbrechen, Unfall, Krankheit oder familiäre Brüche. Zum anderen kleidet sich der Verlust in verschiedene Masken. Menschen verlieren ihre Träume, ihre Hoffnung, ihre große Liebe, ihre Selbstbestimmung. Sie verharren in ungesunden Beziehungen, verlieren das Maß aus den Augen, klammern sich an Trugbilder und den schönen, fragilen Schein. Als letzterer durch Lucas Verschwinden nicht mehr gewahrt werden kann, führt dies alle Beteiligten an ihre Grenzen. Und darüber hinaus.

Wer ist Opfer, wer ist Täter? Petra Hammersfahr spielt mit den Erwartungen der Leser. Sie deutet an, aber bewertet nicht. Dafür charakterisiert sie ihre Protagonisten auf großartige Weise, durch Momentaufnahmen, Gedankengänge und Verhaltensweisen. Wie schon in ihrem Roman „Der stille Herr Grenady“ über einen pädophilen Untermieter, gelingt es der Autorin hervorragend, den getarnten Schrecken mitten unter uns vorzuführen. Auch hier sind wieder Kinder die Opfer. Ein erschreckend guter Thriller, der noch lange nachwirkt.

Petra Hammesfahr: Als Luca verschwand.
Diana, März 2018.
496 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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