Wenn es nicht vermessen wäre, müsste man diesen Roman mit den Büchern des großen Carlos Ruiz Zafón vergleichen.
Nun ist Leipzig nicht Barcelona und Kai Meyer sicher nicht Ruiz Zafón, doch atmosphärisch wie auch thematisch muss sich dieses Buch nicht hinter denen des Spaniers verstecken.
Dieser fesselnde Roman, der auf drei Zeitebenen spielt und eine faszinierende Geschichte erzählt, ist mystisch, dramatisch, spannend, philosophisch und historisch fundiert. Im Mittelpunkt steht die Liebe zu Büchern.
Robert Steinfeld betritt im Jahr 1971 zusammen mit der befreundeten Bibliothekarin Marie die riesige Büchersammlung des Max Pallandt. Dieser ist Spross der ehemals Leipziger Verlegerfamilie Pallandt, mit denen auch das Schicksal von Roberts Vater Jakob eng verbunden war. Diese tragische Beziehung zwischen den reichen Pallandts und dem idealistischen Buchbinder Jakob Steinfeld beginnt im Jahr 1933. Weitere 10 Jahre später wird der kleine Junge Robert aus dem brennenden, von Bomben zerstörten Leipzig gerettet, nachdem er sein ganzes bisheriges Leben eingesperrt und einsam hatte verbringen müssen.
Wir folgen also den Ereignissen in den Jahren ab 1933, dem Schicksal Jakob Steinfelds, seiner Liebe zu Juli Pallandt und der Freundschaft zum russischen Juden Grigori. Wir begleiten den kleinen Robert zusammen mit seinem mysteriösen und geheimnisvollen Retter Mercurio durch das kriegsgebeutelte Land in den letzten beiden Kriegsjahren und wir beobachten den erwachsenen Robert und seine Freundin Marie bei ihren Recherchen zu den bei Max Pallandtgefundenen, noch von Jakob gebundenen Büchern. Dabei ist vor allem ein ganz besonderes Buch im Fokus des Interesses aller Beteiligten zu all diesen Zeiten.
Kai Meyer verschlingt die Fäden der Handlung geradezu genial. Immer wieder wechseln die Zeitebenen, ohne dass es Brüche im Ablauf gibt. Atemlos verfolgt man die Ereignisse, fürchtet sich zusammen mit Jakob vor den an Einfluss gewinnenden Nationalsozialisten, teilt die Alpträume des kleinen Robert in all den Feuern und dem Bombenhagel und will ebenso wie der große Robert endlich wissen, wer seine Mutter war und was mit ihr geschah.
Das wird alles so ungemein spannend, so einfühlsam und mit so großer Liebe insbesondere zu Büchern und denen, die sie uns schenken, erzählt, dass man diesen Roman regelrecht verschlingt. Atemlos blättert man um, genießt dabei jeden Moment und kann doch das Ende kaum erwarten. Darüber hinaus lernt man noch einiges über die Bücherstadt Leipzig und ihre Geschichte, ihre Bewohner und die besondere Atmosphäre in den besonderen Vierteln. Und immer wieder geht es um die Liebe zu und die Bedeutung von Büchern: „ ‚Warum tut jemand so was?‘ , fragte der Junge. Mercurio schob seine schmutzigen Finger ineinander: ‚Weil die Menschen nicht genug Bücher lesen. Erst wenn sie wirklich verstehen, wie es sich anfühlt, ein anderer zu sein, werden sie aufhören, sich gegenseitig Schlimmes anzutun.‘“ (S. 116).
Hinzu kommen mit viel Präzision erschaffene Figuren, packende Dialoge und plastisch beschriebene Settings. Man taucht geradezu ein in diesen Roman, um am Ende wie aus einer anderen Welt wieder aufzutauchen und Atem zu holen.
Ein absolutes Highlight auf dem Büchermarkt, nicht nur für Bücherfreunde. Unbedingt empfehlenswert.
Kai Meyer: Die Bücher, der Junge und die Nacht
Knaur, November 2022
496 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 €
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.