Johannes Hepp: Die Psyche des Homo Digitalis

Eine Befragung ergab, dass 40 Prozent aller unter 35-jährigen Amerikaner selbst beim Autofahren auf Social Media gehen, 64 Prozent bei der Arbeit, 65 Prozent während eines Dates und 36 Prozent direkt nach dem Sex.“ (S. 128)

21 Neurosen, die uns im 21. Jahrhundert herausfordern? Zuerst einmal: Was ist eine Neurose? Als Neurosen werden psychische Verhaltensstörungen definiert, wie bspw. Phobien, Angststörungen, Zwangsstörungen, Panikattacken, depressive Neurosen, hypochondrische Neurosen, diffuse Angstzustände oder dissoziative Störungen. Genau diese Definition fehlt mir, um gleich zu Beginn im zentralen Thema des Buches anzukommen. Dennoch fand ich es interessant, denn Seite um Seite ist richtig gut zu lesen, ohne Durchhänger meinerseits, ohne langweilige Passagen.

Noch spannender hätte ich es gefunden, wenn die zahlreichen Themen durch weiterführende erhellende Einsichten und erfrischende Blickwinkel ungewöhnlicher Perspektiven geglänzt hätten. Auch wenn ich nicht allem zustimmen konnte, was der Autor erörterte, regt es jedenfalls gut zum Nachdenken an. Doch bei seiner Kritik über Social Media bin ich voll und ganz bei ihm. Denn der Homo Digitalis denkt, er konsumiere kostenlose Produkte, doch er ist das Produkt.

So heißt konsequenterweise Psychologie (griech. Seelenkunde) im Silicon Valley »Human Engineering«. […] Diese Ingenieurskunst wird so gut wie nie zur Löschung von konditionierten Verhaltenssüchten eingesetzt, sondern zur vollautomatisierten Verstärkung neurotischen und süchtigen Verhaltens, Denkens und Fühlens.“ (S. 22-23)

Eine für mich leider ziemlich treffende Beschreibung unserer momentanen Situation und ein komplett konträres Bild zu aktuellen Meinungen der Populärpsychologie, die z. T. noch weit entfernt davon ist, Algorithmen, Psycho-Tricks und KI gesteuerte Codes der Netzwerke anzuprangern und offenzulegen, da sie ihnen noch dienlich sind.

In diesem Buch nimmt uns Johannes Hepp mit auf eine abenteuerliche Reise u. a. in die Internetsucht, die Geltungssucht der Profilneurose, die Dating-Neurose, die Isolations-Neurose, Bewertungszwänge, Vergleichssüchte und Selbstdarstellungszwänge, Vereinsamung, Einzigartigkeitszwänge, Vollkommenheitsstreben, Zukunftsängsten, Biohacking aka leistungssteigerndem Microdosing von Rauschmitteln und vielem mehr.

Dabei beleuchtet er z. B. auch das Leben, bzw. die Leiden der jungen Influencerin Chiara Ferragni. „Nur Extrempositionen werden noch wahrgenommen im Ozean der Datenmasse. Das Ringen um Sichtbarkeit im Netz und das Online-Angeben wurden im letzten Jahrzehnt zu einem Volkssport.“ (S. 71)

Auch die US-Sängerin Selena Gomez machte 2016 ihre Instagram-Sucht öffentlich: „Ich war süchtig, und es fühlte sich an, als würde ich Dinge sehen, die ich nicht sehen wollte, als ob es mir Dinge in den Kopf legte, für die ich mich nicht interessieren wollte.“ (S. 133)

Also, was können wir gegen die Neurosen des 21. Jahrhunderts tun? Einen Sinn im Leben und nicht im Netz suchen, weniger auf Displays und mehr in Augen schauen, weniger googeln und mehr nachdenken, weniger chatten und mehr umarmen.

Für mich ist „Die Psyche des Homo Digitalis“ ein wirklich gelungenes Werk für den Einstieg in ein wertvolles Thema.

Johannes Hepp: Die Psyche des Homo Digitalis.
Kösel, August 2022.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Olivia Grove.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.