Johann Scheerer: Wir sind dann wohl die Angehörigen

33 Tage lang war Jan Phillip Reemtsma in den Händen seiner Entführer. Seine Geschichte hat er in dem kleinen Band „Im Keller“ bereits erzählt. Zur Zeit seiner Entführung hatte Jan Phillip Reemtsma einen dreizehnjährigen Sohn: Johann. Dieser hat jetzt seine Geschichte der 33 Tage in einem Roman verarbeitet. Es begann an einem Morgen, als seine Mutter in sein Zimmer kam mit den Worten: „Jan Phillip ist entführt worden.“ Von da ab beginnen 33 Tage, die im Nachblick surrealistisch erscheinen. Die Wohnung wird verkabelt, Polizisten ziehen in das Haus mit Mutter und Sohn und werden beinahe zu Freunden.

Johann Scheerer erzählt von dem, was er empfunden hat. Von der Langeweile des Wartens, die durch nichts betäubt werden kann. Von der Angst und der Verzweiflung, die mit jeder gescheiterten Lösegeldübergabe wuchs. Von Fehlern wie eine falsch aufgebaute Kopie des Familienwagens, die ihn einfach nur wütend machten. Kontakte zu Schule oder Freunden waren in der Zeit kaum möglich, und wenn sie möglich waren, erwiesen sie sich als schwierig. Weil Johann etwas erlebte, das die anderen selbst beim besten Willen nicht nachvollziehen konnten. Er schreibt – allerdings nicht stringend – aus der Sicht des dreizehnjährigen Johann, wobei Reflexionen des 35-jährigen Johann nicht ausgeschlossen sind. Er schreibt, wie sehr ihn, den Nichtleser (was man dem Buch übrigens nicht anmerkt), die bitte seines Vaters, sich jeden Abend zu einer bestimmten Uhrzeit mit Hilfe eines Kapitels der Chronik der Weltgeschichte mit ihm zu vereinigen, ihn in die Verzweiflung treibt, weil er sie nicht erfüllen kann. Übrigens schreibt er kein Wort, weder während der Erzählung noch etwa in einer Nachbemerkung, über die Entführer. Ich meine mich zu erinnern, dass diese gefasst wurden und das das einen ziemlichen Medienrummel gab.

Man muss sich nicht für die Geschichte der Entführung des Jan Phillip Reemtsma interessiren, um in dem Buch Spannung zu finden. Auch wenn das gute Ende ja inzwischen weitläufig bekannt ist, gelingt es Johann Scheerer doch, den Leser in den Sog der Erzählung hineinzuziehen. Das Buch funktioniert, weil es ein sehr ehrliches Buch ist. Hut ab vor dem Mut, es zu veröffentlichen. Und gut geschrieben ist es auch noch.

Ungedingte Empfehlung.

Johann Scheerer: Wir sind dann wohl die Angehörigen: Die Geschichte einer Entführung.
Piper, März 2018.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.

 

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